In deutschen Geschichtsschulbüchern wird bis heute in einer nationalen Engführung die Entstehung des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 in der Regel als Ergebnis eines komplizierten Zusammenspiels von innen- und außenpolitischen Faktoren beschrieben. Frankreich habe Preußen provoziert und schließlich den Krieg erklärt, weil die Kandidatur eines Hohenzollernprinzen für den spanischen Thron in Paris als Bedrohung wahrgenommen wurde. Kaiser Napoleon III. stand zusätzlich unter innenpolitischem Druck, endlich einen außenpolitischen Erfolg vorzuweisen. In dieser angespannten Lage wirkte die von Bismarck gekürzte und veröffentlichte Emser Depesche als eine gezielte Provokation – sie heizte die nationalistische Stimmung in Frankreich an und führte unmittelbar zur Kriegserklärung.
Auch Österreich spielt in dieser Darstellung eine Rolle. Nach der Niederlage von 1866 hatte das Habsburgerreich seine Großmachtposition eingebüßt. Bismarcks „milder“ Frieden nach Königgrätz und die innere Neuordnung als nun Österreich-Ungarn durch den Ausgleich von 1867 banden Wien. Eine belastbare Allianz mit Frankreich kam nicht zustande, und so entschied man sich für Neutralität – was Frankreichs Isolation noch verstärkte.
Doch was hat all das mit Mexiko zu tun? Überraschend viel.
Denn Frankreichs Niederlage im Krieg gegen Preußen steht in enger Verbindung mit einer außenpolitischen Episode, die man in Europa gerne übersieht, die aber in Mexiko bis heute eine große Rolle spielt: das französische „Abenteuer“ in Mexiko. Kaiser Napoleon III. hatte bereits 1862 Truppen entsandt, um dort ein Protektorat zu errichten. Mit Maximilian, dem Bruder Kaiser Franz Josephs von Österreich, installierte er ab 1864 einen Marionettenkaiser in Mexiko.
Die mexikanische Republik unter Führung von Benito Juárez organisierte jedoch einen entschlossenen Widerstand. Nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs erhöhten auch die Vereinigten Staaten den Druck auf Frankreich. Napoleon III. musste seine Soldaten zurückziehen. Ohne die militärische Unterstützung Frankreichs brach Maximilians Regime rasch zusammen. 1867 wurde der „Kaiser von Mexiko“ in Querétaro gefangen genommen und nach einem Gerichtsprozess öffentlich hingerichtet – eine Szene, die Édouard Manet in einem berühmten Gemälde festgehalten hat, dessen vierte Fassung heute in der Kunsthalle Mannheim zu sehen ist. Teile einer anderen Fassung finden sich in der National Gallery in London.
Diese Niederlage schwächte Napoleon III. enorm: Es war nicht nur ein außenpolitischer Gesichtsverlust, sondern durch die hohe Kosten auch ein finanzielles Desaster, was zu einer grundlegenden Legitimationskrise seiner Herrschaft in Frankreich führte. Das Scheitern in Mexiko gilt daher als einer der Gründe, warum er anschließend – im Konflikt mit Preußen – so dringend einen außenpolitischen Erfolg suchte. Auch auf der persönlichen Ebene spielte Mexiko eine Rolle: Dass Napoleon III. trotz Zusage, seine militärische Unterstützung für Maximilian zurückzog, führte trotz symbolischer Annäherung zu einer Beeinträchtgung des Vertrauens in die Person Napoleons. Die ausbleibende Unterstützung im deutsch-franösischen Krieg war aber vor allem das Resultat von strategischer Vorsicht und innerer Schwäche Österreichs.
Für Mexiko hingegen ist Benito Juárez bis heute eine prägende Gestalt. Er war der erste indigene Präsident Mexikos und gilt als liberaler Reformer. Schulen, Straßen, Plätze in jeder noch so kleinen Stadt tragen seinen Namen, Denkmäler erinnern an ihn im ganzen Land. Auch der Flughafen der Hauptstadt ist nach ihm benannt. Mit dem erfolgreichen Widerstand gegen die französische Besatzung und der Entscheidung, Maximilian trotz internationaler Proteste hinrichten zu lassen, setzte Mexiko ein klares Signal: Die neu entstandenen Nationalstaaten in Lateinamerika würden ihre Unabhängigkeit mit allen Mitteln verteidigen – auch gerade gegenüber den nach imperialen Eroberungen strebenden europäischen Mächten.
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