Europa im Krieg – Exil in Mexiko

Als in Deutschland die NS-Herrschaft Menschen verfolgte und zur Flucht zwang, war Mexiko kein Land, das automatisch für alle offenstand, entwickelte sich aber zu einem wichtigen Zufluchtsort für einige Gruppen — sowohl durch staatliche Entscheidungen als auch durch entschiedenes Handeln einzelner. Diese doppelte Logik von restriktiver Gesetzgebung für Einwanderung auf nationaler Ebene versus punktuelle humanitäre Öffnungen prägt die Geschichte des Exils in Mexiko und erklärt, warum dort sehr verschiedene Gruppen landeten: spanische Republikaner:innen, Kommun:istinnen, Intellektuelle, allerdings nur eine sehr kleine Zahl von Jüd:innen (siehe: Daniela Gleizer, Unwelcome Exiles. Mexico and the Jewish Refugees from Nazism, 1933–1945, Leiden/Boston 2014).

Die rechtliche und administrative Grundlage war in den 1930er Jahren eher restriktiv. Bereits 1930/31 etablierte Mexiko bürokratische Regime wie Meldepflichten für Ausländer; die Migrationsverwaltung arbeitete mit Registern und Quoten, und Visa wurden erteilt unter Prüfung von „Integrations-“ bzw. „Wirtschafts“-Kriterien (Überblick zur Einwanderungspolitik PDF). Das heißt: Offiziell gab es keine offene Flüchtlingspolitik, vielmehr mussten die Einreisewilligen Sponsoren, ausreichende Mittel oder spezielle Genehmigungen vorweisen; die Behörden konnten nach ökonomischen Erwägungen ablehnen oder – selektiv – Aufnahmegenehmigungen erteilen. Diese restriktive Linie bleibt ein Grundmuster der mexikanischen Einwanderungspolitik jener Jahre.

Gleichzeitig setzten einzelne politische Entscheidungen und diplomatisches Handeln markante Ausnahmen: Präsident Lázaro Cárdenas verfolgte in den späten 1930er Jahren eine Außenpolitik, die Solidarität mit Republikanern und Opponenten autoritärer Regime einschloss. Mexiko hatte zunächst die spanische Republik mit Geld und Waffen im Kampf gegen Franco unterstützt und öffnete dann 1939 nach der Niederlage die Türen für Verlierer:innen des spanischen Bürgerkriegs. Mexiko organisierte staatlich und zivilgesellschaftlich die Aufnahme weit über 20.000 spanischen Exilanten. Insgesamt waren es rund eine halbe Million Menschen, die für die spanische Republik gekämpft hatten über die Pyrenäen nach Frankreich geflohen und dort in Lagern interniert wurden. Die mexikanische Entscheidung, spanische Republikaner:innen aufzunehmen, erfolgte als bewusste politische Geste und wurde organisatorisch (Schiffsüberfahrten, staatliche Hilfen) umgesetzt. Mexiko war damit in der Region ein führender Aufnahmestaat für spanische Exilierte – so die offizielle Linie der mexikanischen Regierung, während Teile der Bevölkerung der Aufnahme so vieler „Linker“ skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden (PDF).

Unter diesen Flüchtlinge waren auch zahlreiche Deutsche, vor allem Sozialist:innen und Kommunist:innen, die sich für die Republik gegen den aufkommenden Faschismus in unterschiedlichster Weise engagiert hatten. Insgesamt sollen ca. 2000 Deutsche als Flüchtlinge nach Mexiko gekommen sein. Entscheidend war die Rolle, die der mexikanische Konsul Gilberto Bosques in Marseille einnahm. In den Jahren 1940–1942 stellte er Visa aus und organisierte Transportwege aus dem besetzten Frankreich, womit er nicht nur Spanier:innen, sondern auch zahlreiche jüdische und deutschsprachige Verfolgte vor der Deportation in deutsche Konzentrationslager rettete. Bosques’ Tätigkeit meist so beschrieben: Er signierte in seinem Amtsbereich zehntausende Papiere und arrangierte Transporte; viele dieser Visa dienten tatsächlich Transitzwecken, d. h. Flüchtlinge nutzten ein mexikanisches Visum, um aus Europa zu entkommen und viele kamen auch tatsächlich nach Mexiko. Schätzungen nennen etwa 1800 jüdische Einwanderer, die mit Bosques-Papieren direkt nach Mexiko eintrafen; insgesamt soll Bosques bis zu 40.000 Visa ausgestellt haben, die Menschen Fluchtwege ermöglichten — entweder nach Mexiko oder als Transit nach Übersee.

Vor diesem Hintergrund ist die deutschsprachige Community in Mexiko-Stadt zu sehen: Sie bestand bereits seit den 1820er Jahren. Institutionen wie das „Deutsche Haus“ sowie die deutsche Schule, das Colegio Alemán Alexander von Humboldt, organisierten deutsches Vereins- und Kulturleben. Um 1939 waren es ungefähr 3000 Deutsche, die in Mexiko-Stadt lebten. (PDF) Diese „Gemeinschaft“ war sozial und politisch sehr heterogen — mit Gruppen, die offen den Nationalsozialismus unterstützten , aber auch mit klar antifaschistischen Exilnetzwerken der neu angekommenen Flüchtlinge.

Die 1938 gegründete „Liga pro cultura alemana“ war die erste Exil-Organisation in Mexiko, explizit antifaschistisch und eine wichtige Anlaufstelle für die Flüchtlingshilfe. Allerdings gab es starke politische Spannungen aufgrund der unterschiedlichen politischen Orientierungen innerhalb des linken Spektrums, die sich insbesondere in der Haltung zum „Hitler-Stalin-Pakt“ und später dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion entluden. Viele antifaschistische Exilanten organisierten sich in Mexiko-Stadt daraufhin ab 1941 im Heinrich-Heine-Klub, sowie besonders die Kommunisten unter ihnen rund um die in Mexiko herausgegebene Zeitschrift „Alemania Libre“ (Freies Deutschland).

Aber auch die NSDAP war mit eigenen Organisationen in Mexiko präsent: In den 1930er Jahren wirkten NS-Parteiorganisationen und lokale Sympathisanten in Orts- bzw. Landesgruppen der NSDAP / Auslandsorganisation in mehreren lateinamerikanischen Ländern, so auch in Mexiko. Es gab Aktionen, Propaganda und gelegentlich öffentliche Veranstaltungen, gegen die mexikanische Behörden, Gewerkschaften und linke Gruppen Stellung bezogen. In Mexiko hatte die NSDAP / AO rund 150 Mitglieder, nutzte das Deutsche Haus (Casino) als Treffpunkt und hatte einen grossen Einfluss auf die schon länger in Mexiko ansässigen Deutschen. Die Existenz dieser Gruppen verschärfte die Spannungen innerhalb der Community und war einer der Gründe für Misstrauen und Konflikte in der Stadt. Ähnliches gilt übrigens auch für die spanische Gemeinschaft, wo die Falangisten den Sieg Francos im April 1939 im Casino Español feierten und die antifaschistischen Spanierinnen und Spanier sich rund um das von ihnen neu eingerichtete spanisch-republikanisch Zentrum organisierten (PDF).

Die Zusammensetzung der deutschsprachigen Exilgemeinde in Mexiko war divers sowohl was den Zeitpunkt der Ankunft in Mexiko wie auch den persönlichen Hintergrund und die politische Orientierung angeht: von politisch engagierten Kommunisten und Sozialisten über linke Intellektuelle und Künstler bis zu jüdischen Wissenschaftlern und Publizisten, so u.a.:

Viele Flüchtlinge, darunter sowohl Deutsche wie auch europäische Jüdinnen und Juden, wollten in erster Linie in die USA; Mexiko sahen sie zunächst nur als Transitstation — sei es, weil US-Visakontingente ausgeschöpft waren oder weil Einreisebedingungen in den USA extrem restriktiv blieben. Bosques’ Pässe und Visa eröffneten oft genau diesen Fluchtkorridor: Einige Menschen blieben in Mexiko, viele nutzten die mexikanische Genehmigung jedoch „nur“ zum Weitertransport nach Übersee. Damit ist zu erklären, warum Bosques’ große Zahl an ausgestellten Visa nicht in gleicher Höhe zu Einreisen nach Mexiko führte.

Die Alltags- und Integrations-Erfahrungen derjenigen, die in Mexiko blieben, sind differenziert dokumentiert: Einige Exilierte berichten in Memoiren und Interviews von Wärme, beruflichem Anschluss und produktiver Zusammenarbeit mit mexikanischen Kolleginnen und Kollegen; Künstler, Intellektuelle und Akademiker konnten oft an Universitäten, Verlagen oder in künstlerischen Werkstätten mitarbeiten. Andere Erzählungen schildern hingegen Schwierigkeiten: sprachliche Hürden, Bürokratie, prekäre Erwerbsbedingungen, gelegentliche Ressentiments gegenüber Ausländern. Bilanzierend lässt sich daher sagen: Mexiko war weder uneingeschränkt willkommend noch kategorisch abweisend — es bot einen Zufluchtsraum, der durch Administration, Kapazitäten und politische Prioritäten limitiert war.

Was geschah nach 1945? Die Wege waren individuell: Manche Exilanten blieben dauerhaft und bildeten langfristige Bindungen (Stichworte: Einbürgerungen, Familiengründungen, berufliche Integration, andere kehrten nach Deutschland zurück, wieder andere zogen weiter in die USA oder Kanada. Einige wenige kamen auch erst nach Kriegsende nach Mexiko.

Die mexikanische Exilgeschichte ist ein hervorragendes Fallbeispiel für Verflechtungs- und Transfergeschichte. Sie zeigt, wie nationale Migrationspolitik, internationale Diplomatie, persönliche Netzwerke und das Handeln einzelner zusammenspielen. Sie eröffnet auch Zugänge zu Fragen der Erinnerung: Wie werden „Gastfreundschaft“ und „Ablehnung“ erinnert? Welche Rollen spielt dieser Teil der Geschichte in Schulen, Denkmälern und Archiven?

Neben den zahlreich veröffentlichten Memoiren sei ein Film als Lernmaterial besonders empfohlen. In Ausschnitten für den Unterricht geeignet lässt der Dokumentarfilm „Flucht nach Mexiko – Deutsche im Exil“ (1994) deutsche Geflüchtete in Zeitzeugeninterviews zu Wort kommen, die in Mexiko heimisch geworden sind, und geht auch kurz auf die Entwicklung der deutschen Auslandsschule in Mexiko-Stadt zur Zeit des Nationalsozialismus ein:

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Hat der Geschichtsunterricht versagt?

Deutschland befindet sich in einer politisch und gesellschaftlich turbulenten Phase. Mit Erschrecken beobachten wir in Deutschland wie international die zunehmende Popularisierung nationalistischer und antidemokratischer Positionen. Die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD ist laut aktuellen Wahlprognosen auf dem besten Weg, bei der kommenden Bundestagswahl zweitstärkste Kraft zu werden.

In den östlichen Bundesländern konnte sie bereits erhebliche Wahlerfolge feiern. Gleichzeitig nimmt die Bedrohung durch Rechtsextremismus zu: Gedenkstätten berichten von immer häufigeren Angriffen und Schmierereien, während rechtsextreme Gewalttaten ansteigen.

Gestern, am 29. Januar 2025, wurden nach dem offiziellen Gedenken an die Opfer Holocaust zum ersten Mal bewusst und willentlich im Bundestag ein Antrag von der CDU/CSU eingebracht, der nur mit der Zustimmung der AfD eine Mehrheit finden konnte. Dies alles geschieht in einem Land, das sich seiner historischen Verantwortung besonders bewusst sein wollte – aber, um es mit Michal Bodemann und Max Czollek zu sagen, vor allem wohl ein Gedächtnistheater aufgeführt hat.

Der Geschichtsunterricht in Deutschland folgt klaren Prinzipien wie Multiperspektivität, Wissenschafts-orientierung, Quellenarbeit und Gegenwartsbezug. Ziel ist es u.a., Schülerinnen und Schüler zu kritischen, reflektierten und mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der DDR-Vergangenheit nimmt einen zentralen Platz ein, um ein Bewusstsein für demokratische Werte und historische Verantwortung zu schaffen.

Angesichts der aktuellen Entwicklungen stellt sich eine auch für mich persönlich unbequeme Frage: Verfehlt der Geschichtsunterricht in Deutschland seine selbst gesteckten Ziele? Ist der bisherige Ansatz unseres Geschichtsunterrichts gescheitert, wenn eine Partei mit rechtsextremen Tendenzen Wahlerfolge feiert, insbesondere auch bei jungen Wählerinnen und Wähler, und Gedenkstätten zum Angriffsziel werden?

Klar ist: Wir dürfen nicht resignieren und uns nicht zurücklehnen. Also, was können wir tun? Wenn Geschichte nicht nur ein Schulfach, sondern eine Verantwortung ist, müssen wir uns fragen: Was können, was müssen wir anders machen als Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer, um unsere Schülerinnen und Schüler auf die aktuellen Herausforderungen und die Demokratie in unserem Land zu stärken?


Nachträge:

P.S. Das KI-generierte Beitragsbild von Dall-e zeigt laut Prompt „das Bild einer typischen Geschichtsstunde in einem deutschen Klassenzimmer im Jahr 2025“ – für mich irritierend nationalistisch in vielen Details. Eine anderer Versuch, gleichfalls mit Dall-e, machte das nicht besser (siehe Bild rechts).

P.P.S. Bildung und Schule, speziell der Geschichtsunterricht, sind eins der ersten Ziele neuer autokratischer Regierungen. Auch von gestern hier noch der Hinweis auf eine weitere Executive Order von Donald Trump. Diese Verordnung zielt darauf ab, dass Schulen keine „ideologischen Inhalte“ vermitteln, die als „anti-amerikanisch“ oder „diskriminierend“ angesehen werden, und betont die Bedeutung „rigoroser Bildung“ und die „Förderung patriotischer Wertschätzung für die Nation“: https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/2025/01/ending-radical-indoctrination-in-k-12-schooling/

Secret Hitler – heimliche Machtübernahme oder rechtzeitige Enttarnung?

Die Einbindung von Brettspielen in den Unterricht kann eine spannende Möglichkeit sein, historische Prozesse und politische Dynamiken für Schüler*innen erlebbar zu machen. Secret Hitler ist ein Spiel, um genau zu sein ein „Social-Deduction-Game“, also eins in denen mit verdeckten Rollen gespielt wird und man versucht in Teams jeweils den Gegner zu enttarnen.

Das Spiel ist nun schon fast zehn Jahre alt, der Hype darum verflogen. Ursprünglich mal (sehr erfolgreich) über Kickstarter finanziert, war das Spiel von Anfang an zugleich unter Creative Commons-Lizenz als PDF zum Runterladen und Ausdrucken verfügbar. Es gibt zahlreiche thematische Ableger und Varianten vom Secret Voldemort (Harry Potter) bis hin zum geheimen „König der Löwen“.

Bisher hatte ich – zugegebenermaßen – um das Spiel einen großen Bogen gemacht, weder gespielt noch mit in den Unterricht genonmen. Durch Zufall bin ich vor kurzem über YouTube auf die Aufzeichnung eines Vortrags von einem der Spieleentwickler gestoßen. Mike Boxleiter erklärt dort – ebenso wie in dem weiter oben verlinkten Beitrag in BusinessInsider – die Entstehungsgeschichte des Spiels: Sie hatten Werwölfe gespielt und wollten ein besseres Deduktionsspiel entwickeln und nach einiger Recherche hätte die Machtübernahme Hitlers quasi perfekt gepasst. Echt jetzt? Secret Hitler nicht nur nur eine Marketingstrategie, sondern ein Spiel in dem man „aus dieser Zeitperiode sehr viel mehr lernen“ kann?

Ich war angefixt: Lohnt es sich, Secret Hitler in den Geschichtsunterricht zu bringen?

Das Spielprinzip von Secret Hitler: Was ist daran historisch?

Im Spiel übernehmen die Spielerinnen die Rollen von Liberalen oder Faschisten, wobei einer den „Secret Hitler“ darstellt. Ziel des Spiels für die Faschisten ist es, Hitler an die Macht zu bringen, ohne dass die Liberalen dies rechtzeitig durchschauen und verhindern. Die Liberalen müssen also die Faschisten enttarnen und verhindern, dass die Machtübernahme gelingt.

Wie im Spiel Werwölfe wissen die Faschisten, wer in ihrem Team ist. Sie wissen auch, wer die Rolle von Hitler hat, dieser weiß aber in großen Spielrunden nicht, wer die Faschisten sind. Es wird ein Präsident bestimmt, der wiederum einen Reichskanzler ernennt. Beide zusammen erlassen ein Gesetz, dies kann „liberal“ oder „faschistisch“ sein. Dabei zieht der Präsident drei Gesetzeskarten, legt eine beiseite und gibt die übrigen beiden an den Reichskanzler, der wiederum eine Gesetzeskarte weglegt und die andere je nach Art des Gesetzes auf das Spielbrett der Faschisten oder der Liberalen. Es wird in der ersten Runde ein „faschistisches Gesetz“ erlassen: War das die Entscheidung des Reichskanzlers? Oder hat dieser vom Präsident nur zwei gleiche Gesetzeskarten erhalten oder hat gar der Reichspräsident drei gleiche gezogen und es bestand gar keine Wahlmöglichkeit? Daran entzünden sich dann in der Runde die ersten, meist hitzigen Diskussionen und Spekulationen. Die Rollen von Präsident und Kanzler wechseln anschließend. Wenn ein bestimmte Anzahl von Gesetzen auf diese Weise erfolgreich verabschiedet wurde, gewinnt die entsprechende Gruppe. Zusätzlich können die Liberalen gewinnen, wenn sie Hitler vorzeitig enttarnen.

Die kurze Beschreibung macht schon deutlich: Secret Hitler ist in erster Linie ein Spiel, das Mechanismen der sozialen Täuschung und Manipulation spielerisch aufgreift, jedoch keine detaillierte Simulation der historischen Prozesse oder politischen Strukturen der Weimarer Republik bietet. Die zugrunde liegenden Abläufe sind eher abstrakt und dienen der Spannung des Spiels, weniger der konkreten Wissensvermittlung über die damaligen politischen Bedingungen.

Nach einem oder zwei Spieldurchgängen bildet die Analyse des Spiels den Kern einer entsprechenden Doppelstunde. Voraussetzung für die Analyse sind grundlegende Überblickskenntnisse über das Ende der Weimarer Republik, den Aufstieg der NSDAP, ihre Strategien, die Rahmenbedingungen und schließlich die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.

Die Vorkenntnisse müssen aktiviert und angewendet werden, um die einzelnen Spielelemente und Mechanismen in ihrem Bezug (oder dem Fehlen dieses Bezugs) zum historischen Geschehen analysieren zu können. Auch wenn die tatsächlichen Bezüge gering sind (u.a. Ernennung des Reichskanzlers durch den Präsidenten, legislative Macht bei Präsidialkabinetten ohne Mehrheit im Parlament, ggf. noch Atmosphäre des Misstrauens, Aushandeln unterschiedlicher Interessen) lohnt sich die Analyse des Spiels, weil alle Vorkenntnisse abgerufen und abgeglichen werden müssen – möglicherweise vorhandene Fehlvorstellungen können geprüft und im Gespräch gemeinsam geklärt werden. Interessant ist auch der Mechanismus, dass schon vor der Machtübernahme der Faschisten diese in einzelnen Gesetzen ihre Agenda durchsetzen können und dadurch die Handlungsspielräume der Demokraten (im Spiel „Liberale“) zunehmend eingeschränkt werden. Darüber bietet es sich an als Form der Ergebnissicherung an, die Vorstellungen, die das Spiel transportiert, herauszuarbeiten (Agieren im Geheimen, nur Ebene von Regierung und Parlament, Reduzierung auf Konflikt von zwei politischen Gruppen usw.) und den historischen Abläufen und Personenkonstellationen gegenüberzustellen. Spannend ist der Abgleich mit den Aussagen der Spieleautoren und deren Aussagen über die historischen Bezüge des Spiels – das kann verbunden sein mit der Frage, ob es sich hier tatsächlich um ihre Vorstellungen handelt oder das Thema als verkaufsfördernd (insbesondere in den USA) angesehen wurde…

Beobachtungsauftrag: Analyse der Spielmechanismen und Dynamiken im Unterricht

Das Spiel eignet sich zum Abschluss einer Unterrichtseinheit allenfalls in der Oberstufe. Voraussetzung ist ein gutes Klima in der Lerngruppe, denn konfrontative Deduktionsspiele können bestehende Spannungen verstärken oder schwelende Konflikte anheizen bzw. auch zum Ausbruch bringen. Die Spielteilnahme sollte in jedem Fall freiwillig sein. Für Schülerinnen, die das Spiel nicht aktiv mitspielen, kann ein Beobachtungsauftrag sinnvoll sein. Sie können protokollieren, wie die Spielenden ihre Rollen ausfüllen, wie sich die Gruppendynamik und das Misstrauen entwickelt, welche Strategien die Spielenden nutzen, um sich gegenseitig zu täuschen oder zu überzeugen. Darüber hinaus lässt sich beobachten, wo Spannungsmomente liegen, wie das Spiel diese erzeugt und wie sich Regeländerungen, die durch eine bestimmte Anzahl von Gesetzen auf der eigenen Leiste freigeschaltet werden, auf die Spiel- und Gruppendynamik auswirken.

In diesem Zusammenhang lassen sich – quasi nebenbei – auch grundlegende Fragen des gemeinsamen Spielens und des Spiels als Medium besprechen: Übernahme von Rollen im Spiel und Auswirkungen von Spielhandlungen in diesen Rollen (magic circle), gruppendynamische und psychologische Aspekte, die Frage nach einem angemessen Umgang mit dem Thema und auch den Grenzen von thematischer Umsetzung, Rollenangeboten und Spielhandlungen usw. Als Gegenbeispiel kann das Spiel Weimar dienen: Hier war es ja eine ganz bewusste Entscheidung des Autors, dass die NSDAP zwar im Spiel vorkommt, aber von keiner Person übernommen werden kann – vielmehr verlieren alle, wenn diese gewinnt.

Reflexion: Ist Secret Hitler für den Unterricht geeignet?

Einer der Vorteile von Secret Hitler ist, dass das Spiel die Lernenden in ein narratives und interaktives Erlebnis eintauchen lässt, in dem sie die Dynamiken von Vertrauen, Misstrauen und (spielerischen) Manipulationsversuchen direkt erleben. Dies kann das Verständnis für politische und gesellschaftliche Prozesse vertiefen. Ansatzweise wird erlebbbar wie Gruppen, aber auch politische Systeme durch gezielte Destabilisierung von innen heraus geschwächt und zerstört werden können.

Allerdings kann das Spiel leicht missverstanden werden, da es die historischen Rollen und Prozesse nur sehr abstrakt und extrem reduziert darstellt und gar nicht kontextualisiert. Daher erfordert das Spiel eine sorgfältige Vorbereitung und vor allem auch gut moderierte Nachbesprechung, damit die Jugendlichen die Spielelemente in den historischen Kontext einordnen und verstehen, dass die Faszination des Spiels weder historischen noch aktuellen politischen Entwicklungen im realen Leben entspricht, und die zugleich auch die Rollenerfahrungen, Emotionen und Konflikte des Spielerlebenisses reflektieren lässt. Es besteht die Gefahr, dass ein verzerrtes Bild der Machtübernahme und von Diktatur im Allgemeinen durch das Spiel entsteht, wenn nicht klar betont wird, dass es sich hier um eine weitgehend freie, spielerische und keinesfalls um eine historische Darstellung handelt.

Fazit: Mehr Grenzen als Nutzen?

Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob ich das Spiel noch einmal mit in den Unterricht nehmen werde. Secret Hitler ist ein Spiel, dessen emotionale Dynamik und Spielerlebnis für die Lernenden ein Highlight ist, das ihnen lange in Erinnerung bleiben wird. Es kann unter Umständen eine interessante Möglichkeit sein, um im Geschichtsunterricht die Gefährdung von Demokratien interaktiv zu thematisieren – das Spiel als Ausgangspunkt für weiterführende Fragen und eigene Untersuchungen. Das Spiel kann auch als alternative Form der Auseinandersetzung zur Wiederholung und Festigung wesentlicher Unterrichtsinhalte genutzt werden.

Doch – das zeigte auch die Erfahrung aus dem einmaligen Einsatz im Unterricht und darum betone ich das an dieser Stelle noch einmal – muss das Spiel durch eine fundierte Auseinandersetzung von der tatsächlichen Darstellung von Geschichte deutlich abgegrenzt werden, damit die Lernenden den Unterschied von Spiel zu Realität klar erkennen und nachvollziehen können und nicht – wie in einem Fall geschehen – aus dem Spiel die (falsche) Vorstellung mitnehmen, Hitler und die NSDAP hätten nur im Verborgenen agiert… wobei die entsprechende Äußerung noch einmal eine gute Lerngelegenheit für die gesamte Gruppe bot.

Nochmal 90 Minuten…. Through the darkest of times

Anknüpfend an die vorangehende Doppelstunde haben wir heute „Through the darkest of times“ angespielt. Wen das interessiert, hier eine kurze Beschreibung des (sehr einfachen) Unterrichtssettings:

Das Spiel hatte ich über Steam auf meinem Laptop dabei und im Offline-Modus frontal projiziert. Der Kurs umfasst nur 12 Schüler*innen, die sich mit ihren Tischen in einem Halbkreis vor der Projektionsfläche gesetzt haben.

Bevor wir mit dem Spiel begonnen haben, haben alle Schüler*innen einen geheimen Beobachtungsauftrag bekommen. Diese kann man gezielt zuteilen oder zufällig ziehen lassen. Geheim sollte der Auftrag deshalb sein, weil sich bei einigen Aufträgen eventuell das Verhalten im Spiel bzw. in der Gruppe ändert, sollte der Beobachtungsauftrag vorher nicht allen bekannt sein.

Hier ein paar ungeordnete Beispiele für mögliche, unterschiedlich anspruchsvolle Beobachtungsaufträge:

  • Notiere, welche historischen Ereignisse im Spiel genannt werden.
  • Mach dir Notizen: An welchen Punkten hat die Gruppe (im Rückblick) falsche Entscheidungen getroffen?
  • Notiere, ob und ggf. welche Auswirkungen die Eigenschaften der Charaktere auf den Spielverlauf haben.
  • Beobachte das Gameplay: Wie funktioniert das Spiel? Welche Rolle übernehmen die Spieler? Was können / was müssen sie tun? (Welche Entscheidungs- / Handlungsoptionen haben sie?)
  • Mach dir Notizen: Was ist das Spielziel? Wie kann man dieses erreichen?
  • Achte auf die Musik und Geräusche: Mit welchen Mitteln wird gearbeitet? Welche Effekte werden damit erzeugt?
  • Ort & Zeit: Welche Orte kommen im Spiel vor? Wie werden Orte, Räume und Bewegung im Spiel abgebildet? Wie wird Zeit im Spiel abgebildet?
  • Beobachte uns als Gruppe: Wie verlaufen die Diskussionen? Was fällt dir auf?
  • Beobachte die Entscheidungsfindung in unserer Gruppe: Welche Entscheidungen werden getroffen? Was sind die Gründe dafür?
  • Aus welchen gesellschaftlichen Gruppen kamen die Menschen, die den Widerstand gegen den Nationalsozialismus getragen haben? Mit welchen Schwierigkeiten und Problemen hatte Widerstandsgruppen zu kämpfen?
  • Achte auf die grafische Gestaltung: Notiere deine Eindrücke, welche Wirkung durch sie erzielt wird.

Je nach Schwerpunktsetzung und Gruppengröße können einzelne Aufträge auch mehrfach vergeben werden, um anschließend die gemachten Beobachtungen miteinander zu vergleichen und zu diskutieren.

Wir haben ein neues Spiel gestartet und die Schüler*innen haben jeweils per Mehrheitsentscheid über die Entscheidungen im Spiel abgestimmt. Teilweise ging die Abstimmung sehr schnell, teilweise gingen der Abstimmung lebhafte und engagierte Diskussionen voraus. Insgesamt haben sich relativ viele Schüler*innen an den Diskussionen aktiv beteiligt.

Die 90 Minuten der Doppelstunde waren wie folgt aufgeteilt:

  • ca. 60 Minuten: Einführung, Verteilen der Beobachtungsaufträge
  • ca. 5 Minuten: Vervollständigen der Notizen und Strukturieren der Antworten
  • ca 25 Minuten: Vorstellen der Beobachtungen und abschließende Diskussion

Die Spielzeit reichte aus, um die ersten vier Wochen der Geschichte zu spielen. In unserem Fall: bis zu unserem ersten Verhör und unserer ersten Verhaftung – wobei das je nach Spielverlauf vermutlich nicht immer an dieser Stelle bereits erfolgen muss.

Aufgrund der Struktur des Spiels und der geringen Größe der Lerngruppe hat sich das Verfahren das Spiel gemeinsam zu spielen, die Entscheidungen zu diskutieren und abzustimmen nach meinem ersten Eindruck sehr positiv bewährt, so dass ich das methodische Vorgehen für diese Art digitaler Spiele auf jeden Fall empfehlen kann.

Wer das Spiel noch nicht kennt, kann z.B. mit Hilfe eines Let’s Play auf YouTube einen ersten Eindruck gewinnen:

Durch die dunkelste aller Zeiten… in 90 Minuten

Through the darkest of times ist ein digitales Spiel, über das im Vorfeld schon sehr viel berichtet wurde, weil es das erste Spiel war, in dem in Deutschland Hakenkreuze gezeigt werden dürfen. Am 30. Januar ist es nun erschienen und hat wiederum ein breites mediales Echo hervorgerufen (siehe u.a hier, hier und hier). Anbei eine kleine Idee, wie man das Spiel im Geschichtsunterricht in einer Doppelstunde thematisieren kann.

Einstieg: Werbetrailer anschauen und erste Eindrücke sammeln

Fragen entwickeln: Im Anschluss an die ersten Eindrücke können erste Fragen notiert werden, danach werden ein kurzer Bericht (z.B. den nachfolgenden) über das Spiel geschaut und weitere Fragen gesammelt.

Die Fragen werden nun zu mehreren Gruppen mit jeweils einer Überschrift (z.B. Gameplay, Artwork, Setting) gebündelt. Die Schülerinnen und Schüler organisieren sich nach Interesse in Kleingruppen und übernehmen jeweils eines der Themen (Überschriften) mit den dazu gehörigen Fragen. Sie recherchieren online z.B. auf den Seiten des Entwicklerstudios sowie in Medienberichten über das Spiel, Einschätzungen des Spiels aus Sicht von Geschichtswissenschaftler*innen und Interviews mit den Machern.

Abschließend präsentieren die Schülergruppen ihre Rechercheergebnisse im Plenum. Daran anknüpfend kann das Spiel zu einer tiefergehenden Analyse oder zur Beantwortung offener Fragen in den Folgestunden angespielt und/oder die Auseinandersetzung mit dem Spiel mit einer Unterrichtsreihe zum Nationalsozialismus, der deutschen Erinnerungskultur oder dem Umgang mit rechtsextremen Tendenzen in Gesellschaft und Politik heute verknüpft werden.

Erinnerung sichtbar machen: 80 Jahre Reichspogromnacht 2018. Ein Projekt für Schulklassen als Beitrag zur Erinnerungskultur

burning_synagoge_siegen_1938Ein kurzer Hinweis auf ein spannendes Projekt, das heute startet. Es ist zu wünschen, dass viele Schulen und Klassen sich daran beteiligen. Aus der Projektbeschreibung:

Schulklassen sollen angeregt werden, altes Bildmaterial zu Synagogen in ihrer Stadt zu recherchieren und in einer speziellen Datenbank zu publizieren, die den historischen Vergleich mit der heutigen Situation aus identischem Blickwinkel ermöglichen wird. Mit Hilfe der GPS-Koordinaten und mit Hilfe der augmented reality Technik auf dem Smartphone oder Tablet soll damit Geschichte vor Ort sichtbar und real erlebbar gemacht werden. Die Inhalte werden darüber hinaus über das Internet auch weltweit verfügbar sein. Zusätzlich zum Bildmaterial können pro Klassenprojekt Texte, Videos und Audiobeiträge erarbeitet und eingestellt werden. So könnten Schüler z. B. eventuell noch lebende Zeitzeugen oder deren direkte Nachkommen interviewen, daraus einen ‚Radio-‚ oder Youtube-Beitrag schneiden und diesen dem Projekt beifügen bzw. mit ihm verlinken. Auch die Archive der Städte und Gemeinden sowie der lokalen Zeitungen sollten aufschlussreiche Hinweise auf die damalige Zeit enthalten, die aufgearbeitet werden könnten.

Weitere Informationen und die komplette Ausschreibung unter: https://www.zum.de/kff/reichspogromnacht/

80 Jahre: Novemberpogrome 1938

zwei-zugc3a4ngeNachdem 2013 zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht das Twitter- und Blogprojekt 9nov38 mit breiter Außenwirkung gelaufen ist, ist nun mit 2018 bereits der 80. Jahrestag in Sichtweite. Karl-Friedrich Fischbach, Mitbegründer der ZUM, hat ein Projekt vorgeschlagen, das bereits im Januar 2017 starten soll und von der Zentrale für Unterrichtsmedien koordiniert werden wird.

Alle Schulen in Deutschland sind aufgerufen mitzumachen und vor Ort zu recherchieren, was aus den Synagogen im Schulort und gegebenenfalls in benachbarten Wohnorten der Schülerinnen und Schüler nach 1938 wurde. Quellen, insbesondere Bilder, sollen digitalisiert und dann in einer zentralen Datenbank erfasst werden, um sie anschließend für digital unterstützte Stadterkundungen in einer AR-App zur Verfügung zu stellen. Neben Quellen können aber auch selbst erstellte Fotos des heutigen Orts, Darstellungstexte, Umfragen, Interviews hinzugefügt werden. Hier bieten sich zahlreiche Möglichkeiten Projektarbeit vor Ort mit der Nutzung digitaler Medien (Aufnahme von Foto-, Video-, Audiodateien, Geodaten, Kartenarbeit, Online-Recherche usw.) zu verbinden. Die Idee ist, dass Schülerinnen und Schüler die Geschichte, Gegenwart und Erinnerung des Orts aufbereiten und für andere in digitaler Form zugänglich machen. Dabei wird das Projekt technisch professionell durch eine Kooperation mit Future History aus Freiburg unterstützt.

Der vollständige Projektvorschlag findet sich seit heute online im ZUM-Blog. Obwohl es schon zahlreiche Projekte zur Dokumentation der Synagogen und der Novemberpogrome gab, so hat dieses durch das Angebot eigenständiger, lokale Projektarbeit durch Schülergruppen noch einmal einen anderen Schwerpunkt und führt im Idealfall auch zu realen oder online gestützten Kooperationen zwischen Projektteams aus verschiedenen Schulen. Wenn viele Schule sich beteiligen, kann dies zudem auch zu einer einmalig umfangreichen Dokumentation führen, die auch die teilweise weniger gut dokumentierten, ländlichen Räume umfasst.

Auf jeden Fall hoffe ich auf eine breitere Beteiligung, als sie unserem Projekt zur jüdischen Geschichte am Mittelrhein und in Rheinhessen beschert war, wo trotz mehrfacher Aufrufe leider exakt niemand mitgemacht hat….

Buchtipp: Chronik der Schule Nidden

Blick auf das Haff in Nida

Blick auf das Haff in Nida

Als ich vor einigen Monaten in Vilnius auf einem euroclio-Treffen ist mir im Shop des Nationalmuseums ein deutsches Buch aufgefallen: „Chronik der Schule Nidden“

Nidden, litautisch Nida, liegt auf der kurischen Nehrung, heute südliche Grenzstadt zum russischen Gebiet der Kaliningrader Oblast, das die Nehrung in zwei Hälften teilt.

Ursprünglich ein Fischerdorf war Nida aufgrund seiner Lage auch früh Ziel für Künstler und Touristen. Der bekannteste ist sicherlich Thomas Mann, der sich 1929 dort ein Ferienhaus bauen ließ, in dem sich heute ein deutsch-litauisches Kulturzentrum befindet.

Die Chronik umfasst die Jahre 1894-1944. Die Bücher sind erst 2012 bei einer Auktion in Berlin aufgetaucht, wurden anschließend geprüft und dann in einer wissenschaftlichen Edition auf deutsch und in litautischer Übersetzung 2013 veröffentlicht. Die Edition enthält neben dem gedruckten Quellentext zahlreiche Faksimiles und Bilder aus der Chronik, aber auch von Geldscheinen, Briefen und Zeitungsausschnitten.

Hochspannend, aber für den Unterricht wohl weniger relevant, ist der Eindruck, den die Chronik vom ländlichen Leben in Ostpreußen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermittelt. Für den Geschichtsunterricht ist die Quellenedition hingegen besonders deshalb interessant, weil Nidden/Nida zum Memelgebiet gehörte, das nach dem 1. Weltkrieg unter internationale Kontrolle gestellt wurde, und zwischen Deutschland und Litauen umstritten war. Dieser Konflikt lässt sich anhand des Materials exemplarisch bearbeiten.

Auch die mehrjährige Vorbereitung und Agitation vor Ort und dann schließlich der Einmarsch ins Memelgebiet im März 1939 lassen sich anhand der Chronik erarbeiten:

„Am 22. März [1939], eine Woche nach der Errichtung des Protektorats Böhmen u[nd] Mähren, erfolgt die Rückgliederung des Memelgebiets an das Reich. Damit ist endlich die größte Sehnsucht aller Memeldeutschen erfüllt: Memelland ist deutsch u[nd] wir sind frei! Am 23. März kommt der Führer persönlich nach Memel.“

Dazu müssen natürlich noch weitere Materialien hinzugezogen werden, um eine kritische Einordnung der deutschnationalen Perspektive des Autors der Chronik leisten zu können. Der Konflikt um das Memelgebiet erscheint mir aber deshalb für den Unterricht relevant, weil ein Punkt aufgegriffen werden kann, der im Geschichtsunterricht in der Regel nicht vorkommt, damit aber das Tor für rechte Propaganda und Fehlinformation öffnet, die den deutschen Angriff auf Polen als Reaktion und „Verteidigung“ angesichts der polnischen Teilmobilmachung im März 1939 darstellt – so u.a. mit großem medialen Echo 2010 von Erika Steinbach vorgetragen.

geschichtscheckAufmerksamkeit bekommen solche Argumentationen durch den Verweis auf kaum bekannte Fakten (Teilmobilmachtung Polens). Diese Hinweise werden dann als Aufklärung gegen staatliche „Verdummung präsentiert, allerdings werden gleichzeitig weitere einordnende Aspekte weggelassen. An dieser Stelle sei dann auch direkt auf das wichtige und unterstützenswerte neue Projekt GeschichtsCheck.de verwiesen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, „historisch basierte Hassrede und Legendenbildung im Netz analysieren und deutlich machen, dass diese verfälscht, verkürzt und manipuliert.“

Der Beschäftigung mit dem Kriegsbeginn kommt also aktuell eine geschichtskulturelle Bedeutung zu und sollte deshalb detaillierter als bislang im Unterricht aufgegriffen werden. Die Chronik der Schule von Nidden bietet dazu bisher nicht genutzte, interessante Quellen an. Vertiefend lohnt sich übrigens noch der Blick auf die unterschiedliche Darstellung der Zugehörigkeit des Memelgebiets und des deutschen Einmarschs in LeMo („Einmarsch“), der Wikipedia („Wiedervereinigung“) sowie der auf der Wikipedia-Seite hinterlegten englischen Karte.

Hinweis Fortbildung „Was kommt nach den Zeitzeugen?“

Gastbeitrag von Ulrich Eymann, Zeugen der Zeit. Koordinierungsstelle für Zeitzeugengespräche im Unterricht in Rheinland-Pfalz

Wenn man Schülerinnen und Schüler dazu befragt, was ihnen aus dem Geschichtsunterricht noch besonders gut in Erinnerung ist, werden häufig – sofern sie stattgefunden haben – Zeitzeugenbesuche genannt. Dies ist ein Indiz dafür, dass die persönliche Begegnung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einen starken Eindruck hinterlässt. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus werden jedoch immer seltener. In wenigen Jahren wird es diese Möglichkeit überhaupt nicht mehr geben.

Deshalb kommen inzwischen vereinzelt bereits Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der zweiten Generation zum Einsatz, Personen also, deren Eltern die Zeit des Nationalsozialismus erlebt bzw. erlitten haben und in deren Familiengeschichte sie tiefe Spuren hinterlassen hat. Eine solche Person ist Judith Rhodes, deren Mutter als Kind jüdischer Eltern im Rahmen der Kindertransport 1938 aus Ludwigshafen mit nichts als einem kleinen Koffer nach England geschickt wurde, wo sie den Holocaust überlebte, während ihre Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde.

Aber sind Zeitzeugenbesuche auch geeignet, das historische Bewusstsein von Jugendlichen zu fördern oder werden sie nur überwältigt von der Aura einer Person? Sind aufgezeichnete Zeitzeugeninterviews, die in digitaler Form inzwischen auf zahlreichen Portalen im Internet zur Verfügung stehen, hier nicht die bessere Alternative?

Die Fortbildung „Was kommt nach den Zeitzeugen?“ geht den Vor- und Nachteilen der beiden Herangehensweisen an konkreten Beispielen nach, stellt die Frau Rhodes als Zeitzeugin vor und gibt einen Überblick über die wichtigsten Zugangsmöglichkeiten zu aufgezeichneten Zeitzeugeninterviews im Netz.

  • „Was kommt nach den Zeitzeugen?“ (PL-Nr. 162260102)
  • Termin: 18.11.2016, 9.30 – 16.30 h
  • Ort: PL Bad Kreuznach

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Drei Pfeile und ein Hakenkreuz

Auf einem der zahlreichen Accounts, die historische Aufnahmen auf Twitter teilen, bin ich durch einen Retweet über das unten stehende Bild gestolpert.17B

Kurzinfo zum Bild war lediglich: Demonstration gegen die NSDAP 1932 in Berlin – hunderte Mal geliked und geteilt. Das Bild machte mich stutzig: die seltsame Spannung der Fahne, der Fahnenträger, der wie reinmontiert wirkt… Meine Neugier war geweckt kurz zu prüfen, ob das Foto zeigt, was behauptet wird und vielleicht noch zusätzliche Informationen im Netz zu finden sind.

Das Foto findet sich auf zahlreichen Seiten, oft aber mit noch weniger Angaben als in dem Tweet. Gefunden habe ich allerdings ein ganz ähnliches Bild, das die Situation wenige Augenblicke vorher oder nachher und in einem etwas anderen Winkel und Ausschnitt zeigt.

Auf den Seiten der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ findet sich die Szene im Artikel „Verteidigung der Republik“ mit weiteren Angaben und einer kurzen Erklärung:

Drei Pfeile – Symbol der Eisernen Front
Demonstration in Berlin am 1. Mai 1932Gegen Monarchisten, Kommunisten und Nationalsozialisten – die Mitglieder der Eisernen Front bekennen sich zum Weimarer Verfassungsstaat und wollen ihn gegen seine Feinde schützen. Manche sehen in den Pfeilen auch die SPD, die freien Gewerkschaften und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.

Als Fotograf wird übrigens Carl Weinrother genannt.

Die Ausgangsfrage hat sich damit erledigt: Das Foto zeigt, was es zeigen soll. Der Zufallsfund der beiden unterschiedlichen Aufnahmen lässt sich aber produktiv im Geschichtsunterricht nutzen:

Zum einen thematisch zur Endphase der Weimarer Republik. Die Fotos illustrieren anschaulich, dass es massenhafte Proteste (hier wohl im Rahmen der Feiern zum 1. Mai) gegen Hitler und die NSDAP gegeben hat. Eine Perspektive, die angesichts der Fokussierung auf die Wahlergebnisse in der Schule – sofern denn das Ende der Weimarer Republik überhaupt noch Thema ist – nicht immer so präsent ist.

Zum anderen eignen sich beide Bilder im Vergleich gut für methodisches Arbeiten, um im Vergleich von Blickwinkel, Ausschnitt, Bildkomposition unterschiedliche Wiedergabe und Wirkung desselben Ereignisses durch Fotografien als Quelle zu diskutieren.