Nationalstaat und Nation-Building im Vergleich: Deutschland und Mexiko im Geschichtsunterricht

Nach meinen bisherigen Erfahrungen im Unterricht bietet gerade das Thema Nationalstaat und Nationalstaatsbildung spannende Anknüpfungspunkte. Immer wieder kommt es bei Schüler:innen zu Missverständnissen, wenn wir von „Deutschland“ sprechen – gerade in Epochen, in denen es diesen Staat noch gar nicht gab. Erst 1871 wurde ein deutscher Nationalstaat gegründet, zuvor bestanden zahlreiche souveräne Fürstentümer, Königreiche und freie Städte.

Dass Mexiko hingegen schon 1821, also rund fünfzig Jahre früher, mit der Unabhängigkeit von Spanien einen eigenen Staat bildete, sorgt im Vergleich dann für Überraschung. Zunächst in ein Kaiserreich unter Agustín de Iturbide umgewandelt, wurde Mexiko bald zur Republik. Dieses Datum markiert die formale Staatsgründung, doch der junge Staat stand vor großen Herausforderungen, insbesondere in Bezug auf Identität und Einheit: Große Teile der indigenen Bevölkerung sprachen kein Spanisch (1820 ca. 60% der Bevölkerung) und waren kulturell stark divers. Ähnlich wie in Frankreich versuchte der mexikanische Staat unter anderem durch das Schulsystem, eine sprachliche Homogenität auf dem Territorium herzustellen – ein Prozess, der jahrzehntelang mit der Unterdrückung indigener Kulturen, Traditionen und Sprachen einherging.

Diese Unterschiede eröffnen die Möglichkeit, grundlegende Fragen zu stellen: Wie entsteht eigentlich eine Nation? Was macht sie aus? Und wie selbstverständlich ist das, was wir heute „Nation“ nennen, wirklich? Nationen sind, wie Benedict Anderson beschreibt, keine naturgegebenen Gebilde, sondern historisch „erfundene“ Gemeinschaften, die sich über politische, kulturelle und symbolische Prozesse entwickeln und verändern.

Gerade im Vergleich von Deutschland und Mexiko wird dies für Schüler:innen besonders greifbar. In Deutschland existierte bereits vor der Reichsgründung eine kulturell-intellektuelle Nationalbewegung, die sich über die Sprache als nationale Gemeinschaft imaginierte und eine politische Einheit forderte. Wichtige Etappen waren die napoleonischen Kriege, das Hambacher Fest, Hoffmanns von Fallerslebens „Deutschlandlied“ und die Paulskirchenverfassung, um nur einige zu nennen. In Fall Deutschlands geht die konstruierte Identität dem Staat voraus, aus der imaginerten Gruppe erwächst die Forderung nach einem Nationalstaat für eben diese – allerdings: Der später entstehende Nationalstaat war keineswegs homogen, sondern schloss zahlreiche nicht-deutschsprachige Gruppen ein, die einer starken Assimilations- oder Ausgrenzungspolitik ausgesetzt waren (vgl. die „Germanisierungspolitik“ Bismarcks).

In Mexiko verlief der Prozess umgekehrt: Der Staat existierte zunächst formal, mit Grenzen und Institutionen, doch eine gemeinsame nationale Identität musste erst geschaffen werden. Die Gesellschaft war stark in soziale Schichten gegliedert, und nur ein kleiner Teil beteiligte sich politisch aktiv. Nation-Building erfolgte nachträglich über Verfassungen, Bildungssystem, Symbole und Rituale. Sprache und Religion eigneten sich dabei nur eingeschränkt als Abgrenzungskriterien gegenüber den Nachbarstaaten mit Ausnahme der USA – Spanisch und Katholizismus sind bis heute weit verbreitet. Nationale Symbole, allen voran die Flagge, gewannen daher besondere Bedeutung und prägen bis heute den Zusammenhalt der mexikanischen Gesellschaft.

Für Schüler:innen wird durch diese Gegenüberstellung sichtbar, dass es unterschiedliche Wege zur Nationsbildung gibt – und dass die vermeintliche Selbstverständlichkeit der eigenen Geschichte erst im Vergleich verständlich wird. Ausgehend von der ihnen vertrauten mexikanischen Perspektive gelingt so ein vertieftes Verständnis auch für die deutsche Entwicklung. Besonders spannend ist außerdem, die Schüler:innen selbst einzubeziehen: Wenn sie mir als Lehrer im Gastland die Funktionsweise des Gesetzgebungsverfahrens oder das Wahlrecht in Mexiko erklären, lassen sich daran die entsprechenden Fachbegriffe im Deutschen (wie z.B. Verhältnis- oder Mehrheitswahl) einführen und wir können auf dieser Grundlage kontrastiv arbeiten. Im Vergleich mit den Verfassungen des Deutschen Reichs, der Weimarer Republik oder der Bundesrepublik werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlicher, ebenso wie die jeweiligen Stärken und Schwächen.

Kontrastive Zugänge eröffnen so wertvolle Gelegenheiten, komplexe historische Entwicklungen für Schüler:innen verständlicher zu machen, ihre historische Gewordenheit herauszustellen und das Verständnis von Nation, Staat und Identität in unterschiedlichen Kontexten zu fördern.

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Deutsch-mexikanische Geschichte: didaktische Impulse aus dem Geschichtsunterricht an einer Auslandsschule

Nach zwei Jahren an der Deutschen Schule Mexiko-Stadt West beginnt für mich nun das letzte Schuljahr hier – im Sommer 2026 geht es dauerhaft zurück nach Deutschland. Anlass genug, auf manches genauer zu schauen, was mich überrascht, irritiert oder zum Nachdenken gebracht hat.

Überraschend war für mich vor allem, wie viele Bezugspunkte es zwischen Deutschland und Mexiko in der Geschichte tatsächlich gibt. Ganz anders als in Ecuador, wo ich zuvor drei Jahre gelebt und gearbeitet habe, stößt man hier auf eine Vielzahl von Verflechtungen, Begegnungen und Konflikten, die im öffentlichen Raum, in der Erinnerungskultur und nicht zuletzt auch im Schulunterricht eine Rolle spielen.

In den kommenden Wochen möchte ich eine Reihe kleiner Beiträge veröffentlichen, in denen es um zwei Dinge geht:

  1. Kurze Schlaglichter auf Aspekte der deutsch-mexikanischen Beziehungen
  2. Didaktische Überlegungen und konkrete Erfahrungen, wie sich im Geschichtsunterricht der Oberstufe an einer deutschen Auslandsschule die Geschichte des Gastlandes und das Wissen der Schüler:innen darüber nutzen lassen kann, um im Vergleich ein vertieftes Verständnis für die deutsche und europäische, aber auch für die eigene Geschichte zu fördern.

Für mich ergeben sich daraus drei zentrale didaktische Chancen:

  1. Vergleichendes Lernen: Der Vergleich deutscher und mexikanischer Entwicklungen ermöglicht es, Kategorien wie „Nation“, „Revolution“, „Diktatur“ oder „Demokratie“ in unterschiedlichen Kontexten zu betrachten. Das macht diese Begriffe plastischer und regt zur kritischen Reflexion an.
  2. Multiperspektivität: Der Blick auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Mexiko eröffnet immer wieder die Frage: Wer erzählt die Geschichte, aus welcher Perspektive, mit welchem Interesse? Damit lässt sich eine Kernkompetenz des Faches gezielt fördern.
  3. Identitätsstiftung und Verortung: Für Schüler:innen an einer deutschen Auslandsschule ist es wichtig, die eigene Position zwischen verschiedenen kulturellen und historischen Traditionen zu reflektieren. Die deutsch-mexikanische Geschichte bietet eine hervorragende Grundlage, um an einer bikulturellen Begegnungsschule über eigene Zugehörigkeiten und Identitäten nachzudenken.

Mir ist bewusst, dass dies ein sehr spezielles Thema ist, das auch nicht überall umsetzbar ist. Aber vielleicht ist gerade das der Reiz: Einblicke aus einem bestimmten Kontext können Anregungen für ganz andere Situationen geben – sei es im bilingualen Unterricht, in Projekten mit internationalem Bezug oder schlicht bei der Frage, wie man lokale und regionale Geschichte stärker in den Unterricht einbindet.

Ich freue mich daher, in den kommenden Wochen und Monaten Beobachtungen und Erfahrungen zu teilen – und vielleicht bei der einen oder dem anderen Leser Interesse für Mexiko und seine Geschichte zu wecken.

Zu Teil 2 dieser Beitragsreihe.