Manchmal stößt man beim Scrollen durch Social Media auf kleine historische Fundstücke, die ein ganzes Kapitel Geschichte aufblitzen lassen. So etwa ein geteilter Artikel aus der New York Times vom 18. September 1931 mit der Überschrift: „Hitler Condemns Riots — He Says They Were Provoked by Paid Agents in Germany.“ Nur wenige Zeilen lang, doch bemerkenswert: Adolf Hitler distanziert sich darin von antisemitischen Ausschreitungen in Berlin – und behauptet zugleich, die Gewalt sei von „bezahlten Provokateuren“ ausgelöst worden, die der NSDAP schaden wollten.
Hinter dieser kurzen Depesche verbirgt sich ein Ereignis, das die Weimarer Republik erschütterte: der sogenannte „Kurfürstendamm-Krawall„. Am 12. September 1931, dem jüdischen Neujahrsfest Rosch HaSchana, griffen Gruppen von SA-Männern auf dem Berliner Kurfürstendamm und anliegenden Straßen brutal jüdische Passant:innen und vermeintlich jüdisch aussehende Menschen an. Dabei handelte es sich um einen gezielten Einsatz von Gewalt. Dieser war organisiert, nicht spontan, und ereignete sich mitten in der Hauptstadt (siehe als Quelle auch den Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 15.09.1939: PDF).
Die Reaktionen in der Öffentlichkeit waren heftig. Liberale und sozialdemokratische Zeitungen berichteten ausführlich und verurteilten die Angriffe als Vorzeichen einer heraufziehenden Pogromstimmung. Auch international sorgte der Vorfall für Empörung – besonders in den USA und Großbritannien.
Die Berliner Justiz reagierte rasch. Bereits wenige Tage später wurden 33 SA-Männer angeklagt. Das Landgericht verhängte Haftstrafen zwischen neun und 21 Monaten wegen Landfriedensbruchs und Körperverletzung. Die beiden Hauptangeklagten – Wolf-Heinrich Graf von Helldorff und Karl Ernst – erhielten je sechs Monate Gefängnis und eine Geldstrafe von 100 Mark. Das galt im Kontext der Weimarer Zeit zunächst als vergleichsweise hartes Urteil – denn rechte Täter kamen häufig glimpflich davon. Doch schon kurze Zeit später wurden die Strafen in der Berufung erheblich reduziert bzw. ganz aufgehoben. Helldorff und Ernst saßen kaum ihre Haft ab, kehrten in die SA zurück und machten Karriere.
Verteidigt wurden die Angeklagten von zwei Juristen, die später zu zentralen Akteuren des nationalsozialistischen Staatsapparats aufstiegen: Hans Frank und Roland Freisler. Beide übernahmen Hitlers Argumentationslinie, wonach es sich nicht um antisemitische Gewalt, sondern um eine „kommunistische Provokation“ gehandelt habe. Frank, damals Anwalt Hitlers und auch schon Reichstagsabgeordneter, und Freisler nutzten den Prozess als politische Bühne.
Hitlers Erklärung in der New York Times war eine Form strategischer Kommunikation: Die Gewalt wurde nicht geleugnet, aber umgedeutet. Die These von den „bezahlten Agenten“ entfaltete eine enorme Wirkung. Sie erlaubte der NSDAP, sich öffentlich von Exzessen zu distanzieren, ohne die Gewalt selbst zu verurteilen. Gleichzeitig stellte sie die demokratische Öffentlichkeit als manipuliert und unglaubwürdig dar. Schon hier zeigt sich ein Muster politischer Desinformation, das sich bis in unsere Gegenwart zieht.
Die Argumentation Hitlers von 1931 war eine frühe Form dessen, was man heute „False-Flag“-Narrativ nennt – also die Behauptung, ein Anschlag oder eine Gewalttat sei von Gegnern fingiert worden, um der eigenen Gruppe zu schaden. Auch in der Gegenwart finden sich solche Behauptungen regelmäßig. Ziel ist dabei stets dasselbe: Verantwortung zu verschleiern, Zweifel zu säen und die Grenze zwischen Fakt und Fiktion zu verwischen. Das Beispiel von 1931 zeigt, dass Desinformation kein digitales Phänomen ist, sondern eine alte Strategie – damals über gedruckte Presse, heute über soziale Medien.
Für den Geschichtsunterricht bietet dieses historische Fundstück einen wertvollen Zugang: Wie verändern sich Muster von Desinformation über die Zeit – und was bleibt gleich? Der New York Times-Artikel von 1931 kann mit aktuellen Beispielen (siehe z.B. den Sturm auf das Kapitol vom 06.01.2021) verglichen werden. Mögliche Leitfragen wären:
- Wie wird Verantwortung verschoben oder relativiert?
- Welche sprachlichen Mittel werden eingesetzt, welche Emotionen angesprochen?
- Welche Wirkung hat / hatte das Narrativ z.B. in der öffentlichen Wahrnehmung oder politischen Kultur?
So kann das Beispiel von 1931 helfen, Medienkompetenz und historisches Urteilsvermögen miteinander zu verbinden und der Geschichtsunterricht so mit seinem „Kerngeschäft“, der Quellenarbeit, zur allgemeinen Medienbildung und der Orientierung in der Gegenwart beitragen.
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