Auf Spurensuche: Mexikos Protest gegen den „Anschluss“

Der “Anschluss”: Mit dem 12. März 1938 wurde die Republik Österreich in das nationalsozialistische Deutschland eingegliedert. Während die meisten Staaten untätig blieben oder den Anschluss stillschweigend akzeptierten, reagierte Mexiko ungewöhnlich klar. Am 19. März 1938 legte Mexiko als einziges Land beim Völkerbund offiziell schriftlich Protest gegen den „Anschluss“ ein.

Der Protest wurde durch den mexikanischen Gesandten beim Völkerbund in Genf, Isidro Fabela, übermittelt, unter der Regierung von Präsident Lázaro Cárdenas, und bezeichnete die Annexion als Verstoß gegen das Völkerrecht und insbesondere als Angriff auf die politische Unabhängigkeit Österreichs.

Gedenktafeln im Museo del Risco – ehemaliges Wohnhaus von Fabela, das er 1958 dem mexikanischen Volk geschenkt hat

Aber auch der Völkerbund akzeptierte stillschweigend den Bruch internationalen Rechts durch Deutschland – die Trennung von Deutschland und Österreich in zwei unabhängige, souveräne Staaten war durch die Pariser Vorortverträge nach dem Ersten Weltkrieg festgeschrieben.

In Mexiko-Stadt hingegen „hatten die deutschen Nationalsozialisten der NSDAP, Landesgruppe Mexiko […] ein ‚Fest für den vollzogenen Anschluss‘ vorbereitet“, das eine öffentliche Bücherverbrennung einschloss und zu der es „für Personen mit Verwandten in Deutschland oder Österreich ratsam“ sei hinzugehen.

International wurde Mexikos Protest jedoch besonders von den demokratischen Staaten als ein aktiver Ausdruck von Solidarität und als moralischer Bezugspunkt anerkannt. Außenpolitisch pflegte Mexiko insbesondere unter Cárdenas eine Politik, die auf Nicht-Intervention, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Rechtstaatlichkeit setzte. Der Anschluss Österreichs war für Mexiko ein Signal dafür, wie einzelne Staaten internationale Regeln missachten konnten. Mexiko sah in der Protestnote nicht nur symbolischen Wert, sondern verstand sie als Teil seiner Außenpolitik gegen aggressive Expansion.

Und das durchaus im eigenen Interesse: 1938 geriet Mexiko zeitgleich in einen Streit mit den USA über die Verstaatlichung der Ölindustrie unter Präsident Cárdenas. Somit diente die Protestnote auch der Selbstbehauptung mexikanischer Souveränität. Gleichzeitig stand sie im Kontext der interamerikanischen Politik und der Monroe-Doktrin: Mexiko forderte die Abkehr von US-Dominanz und ein System gegenseitiger lateinamerikanischer Solidarität, das später auf der 8. Panamerikanischen Konferenz in Lima 1938 bekräftigt wurde.

Spurensuche

Viele exilierte Österreicher fanden in Mexiko vorübergehend Zuflucht. Die genaue Zahl der österreichischen Flüchtlinge in Mexiko ist nicht bekannt (es werden Zahlen zwischen 500 und 1500 genannt), da viele ihren Geburtsort aus der Zeit vor 1918 in den Grenzen des untergegangenen österreichisch-ungarischen Reiches nutzten, um mit einer anderen Staatszugehörigkeit einzureisen. Wer sich dafür näher interessiert: Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes hat Biographien von Verfolgten gesammelt und stellt diese online zur Verfügung.

Als sichtbares Denkmal für Mexikos Schritt existiert in Wien der Mexikoplatz im 2. Wiener Gemeindebezirk (Leopoldstadt). Die Umbenennung erfolgte 1956, um an Mexikos offizielle Protestnote zu erinnern. Auf dem Platz befindet sich ein Gedenkstein, der 1985 enthüllt wurde, mit der Inschrift:

„Mexiko war im März 1938 das einzige Land, das vor dem Völkerbund offiziellen Protest gegen den gewaltsamen Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich einlegte. Zum Gedenken an diesen Akt hat die Stadt Wien diesem Platz den Namen Mexiko-Platz verliehen.“

2008 errichtete der Künstler Marko Lulić auf dem Mexikoplatz ein temporäres Mahnmal. Ausgehend von der Inschrift auf dem Gedenkstein mit dem Hinweis auf den “gewaltsamen Anschluss” setzte sich dieses Mahnmal kritisch dem Mythos von Österreich als „erstem Opfer“ des Nationalsozialismus auseinander, in dem es in über drei Meter großen Zahlen „99,73“ auf die Zustimmung in Österreich in der Volksabstimmung im April 1938 verweist. Auch wenn diese Abstimmung nicht unter demokratischen Bedingungen durchgeführt wurde, verweist das Mahnmal auch auf die hohe Zustimmung in der Bevölkerung zur Vereinigung mit Deutschland und zu den Ideen des Nationalsozialismus bereits vor dem „Anschluss“.

Gedenkstein in Mexiko-Stadt von 2019

Darüber hinaus gibt es seit 2005 in der Wiener Donau-City die Isidro-Fabela-Promenade, deren Strassenschild eine Tafel mit erklärendem Text umfasst. 

In Mexiko-Stadt gibt es seit 2019 einen Gedenkstein mit Inschriftentafel auf einer kleinen Grünecke mitten in einer breiten Autokreuzung, wo sich der Paseo de la Reforma und Insurgentes kreuzen, in Nähe des mexikanischen Senats. Der Text auf der Tafel würdigt Mexikos offiziellen Protest gegen die Annexion Österreichs. Die Skulptur hat der österreichische Künstlers Mathias Hietz geschaffen und ist ein Geschenk Österreichs an Mexiko als Dank für den offiziellen Protest.

Das Thema im Unterricht

Schrifttafel auf dem Gedenkstein in Mexiko-Stadt

Der Protest Mexikos gegen den Anschluss ist mehr als ein historisches Randereignis. Er zeigt, dass auch Staaten, die nicht unmittelbar betroffen sind, moralische und völkerrechtliche Verantwortung übernehmen können. Für den Geschichtsunterricht bieten sich mehrere Lerngelegenheiten:

Quellenarbeit: Die Protestnote (Digitalisat im französischen Original und Transkript auf Deutsch) und zeitgenössische Reaktionen ermöglichen ein differenziertes Bild und betten den “Anschluss” in eine globalgeschichtliche Perspektive ein.

Erinnerungskultur: Die Straßenbenennungen und Gedenksteine in Wien und Mexiko zeigen, wie Geschichte in den öffentlichen Raum eingeprägt wird und wie Erinnerungspolitik und -kultur sich verändern. Die Orte in Wien bzw. Mexiko können auch Gegenstand von (virtuellen) Exkursionen und Erkundungen vor Ort sein.

Politische Ethik und Sanktionen: Der mexikanische Protest ist ein Beispiel, wie internationales Recht und multilaterale Institutionen gestärkt oder geschwächt werden, je nachdem wie Staaten handeln, und kann im Unterricht mit der Appeasement-Politik kontrastiert werden.

Zum Weiterlesen seien abschließend noch diese beiden online verfügbaren Artikel empfohlen:

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Österreicher im Exil. Mexiko
1938–1947 (2002), https://www.doew.at/cms/download/81056/mexiko_protest.pdf

Gerhard Hafner, A Swallow in Winter: The Mexican Protest in 1938 (2018), https://viennalawreview.com/index.php/vlr/article/view/121

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Beitragsserie: Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland und Frankreich – Teil 1

Leicht überarbeiteter und gekürzter Vortragstext vom April in Koblenz

Wie der Titel bereits deutlich macht, geht es nicht darum, das Geschehen des Kriegs rekapitulieren, sondern einen Blick auf einige Aspekte der Erinnerung an den Krieg in Deutschland und Frankreich zu werfen. Dies geschieht in Form eines groben Überblicks in drei Schlaglichtern:

  1. unmittelbare Nachkriegszeit = 1920er Jahre, mit Ausblick auf die Veränderungen in der NS-Zeit
  2. Zweite Nachkriegszeit nach dem 2. Weltkrieg, 1950er/1960er Jahre (1964 = 50 Jahre nach Beginn)
  3. Heute = das Jahr 2014

1 Unmittelbare Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs: Denkmäler, Veteranentreffen & Alltagsgedenken

1.1. Frankreich

Angesichts des massenhaften Todes in der industrialisierten Kriegsmaschinerie des Ersten Weltkriegs mit zahllosen toten Soldaten, die nicht mehr identifizierbar waren, mussten und bisher ungekannten Anzahl von Kriegstoten (über 1,3 Millionen für Frankreich), mussten neue Formen der (nachträglichen) Legitimation des Kriegs und der Erinnerungskultur gefunden werden. Dies erfolgte mit der Erfindung des „Grabmals des unbekannten Soldaten“: zunächst in London, dann ein Jahr später in Paris das am Arc de Triomphe, das zum zweiten Jahrestag des Waffenstillstands, am 11. November 1920, eingeweiht wurde.

Provisorisches Beinhaus von Douaumont 1920-1927

Provisorisches Beinhaus von Douaumont 1920-1927

Gleichfalls 1920 wurde in Douaumont bei Verdun der Grundstein für einen neuen Bau gelegt. Dort hatte zunächst ein Provisorium bestanden. Für die Gebeine von über 130.000 nicht identifizierten französischen und deutschen Soldaten aufbewahrt, die in der Schlacht um Verdun gefallen sind, entstand nun eine „Knochenhalle“ (ossuaire) als Denkmal von bislang unbekannten Ausmaßen, die 1932 offiziell eingeweiht wurde. Vor dem Beinhaus befindet zusätzlich sich ein Friedhof mit 15.000 Gräbern französischer Soldaten.

In Frankreich entwickelte sich schnell neben den nationalen Erinnerungsorten auch eine lokale Erinnerungskultur an den großen Krieg. Denkmäler für Gefallene des Ersten Weltkriegs finden sich bis heute in fast jedem französischen Dorf. Anders als in Deutschland werden diese Denkmäler als Monuments aux morts (Denkmäler für die Toten) bezeichnet, während sich im Deutschen der Begriff „Kriegerdenkmal“ durchgesetzt hat, der allein auf die Kämpfer/Soldaten verweist, andere Tote allerdings begrifflich ausschließt. Eine Übersicht über die Monuments aux morts findet sich in dieser interaktiven Karte. Um sich einige Beispiele anzuschauen, bieten sich die Zusammenstellung von Fotos und Beschreibungen der Denkmäler an der Marne an.

Sollte die Organisation, Koordinierung und Freigabe der Denkmaliniativen zunächst auf nationaler Ebene geregelt werden, nahm man aufgrund der zahlreichen Anfragen schnell davon Abstand und übertrug die Aufgaben regionalen Autoritäten. So hatten einige wenige Vorgaben, wie z.B. die Inschrift „Mort(s) pour la France“ und das Anbringen von Namenstafeln für alle toten Soldaten der Gemeinde, bei allen Denkmalerrichtungen berücksichtigt zu werden, darüber hinaus waren aber unterschiedliche Gestaltungen möglich.

Schaut man sich beispielhaft die Denkmäler in der Region Champagne an, dann findet sich fast durchgehend in der Gestaltung eine Mischung aus Trauersymbolik mit Gefallenengedenken und Hinweisen auf Frankreich als Vaterland und den Sieg, der den betrauerten Tod letztlich mit Sinn erfüllt und überhöht. Als Standort wurde in der Regel ein zentraler Platz gewählt: vor dem Rathaus, vor der Kirche, der Schule oder auf dem Markplatz.

In Frankreich wurde dann der 11. November zum zentralen Gedenktag. Am Tag des Waffenstillstandes wurde an die Gefallenen des Krieges erinnert. Seit 1922 war der Tag Feiertag und hatte ein fest zeremonielles Gerüst, das aus einem Trauerzug, einer Rede des Bürgermeisters, Vorlesen der Namen der Gefallenen und anschließend Schweigeminute bestand. Anwesend waren sowohl Veteranen wie auch Schulkinder, was eine generations-übergreifende Erinnerung an die Kriegserfahrung sichern sollte.

Veränderungen erfuhren die Denkmäler und der Gedenktag durch die nachfolgenden Kriege. An vielen Kriegerdenkmälern wurden nach 1945 zusätzliche Tafeln mit den Namen der Toten der Gemeinde im Zweiten Weltkrieg angebracht. Am 11.11. wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend, besonders nach dem Tod der letzten Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs den Toten und Gefallenen aller Kriege gedacht. Seit 2011 schließt dieses Gedenken offiziell auch die französischen Opfer in Afghanistan mit ein.

Monument aux morts pacifiste d'Equeurdreville, 1932 eingeweiht, Foto: Auditus CC-BY-SA

Monument aux morts pacifiste d’Equeurdreville, Normandie, 1932 eingeweiht, Foto: Auditus CC-BY-SA.

Zwei Besonderheiten in Frankreich verdienen der Erwähnung, da es Vergleichbares meines Wissens in Deutschland aus dieser Zeit nicht gibt:

1) Einbeziehung von zivilen Elemente in das Gedenken und die Denkmalgestaltung mit trauernde Witwen und auch Darstellungen von Kindern (eine mir bekannte Ausnahme ist das „Kriegerehrenmal“ in Kröv an der Mosel von 1928)

2) Die Errichtung von Friedensmahnmalen: Diese haben im Französischen einen eigenen Namen: Monuments aux morts pacifistes und auch einen französischsprachigen Wikipedia-Artikel, der zahlreiche Friedensmahnmale aus unterschiedlichen Regionen Frankreichs jeweils mit Bildern aufführt. Typische Inschriften dieser Mahnmale sind in deutscher Übersetzung: „Krieg dem Krieg“, „Verflucht sei der Krieg“ oder „Frieden zwischen den Völkern“. Die ersten dieser Mahnungen an den Frieden stammen bereits aus den Jahren 1921 und 1922.

Mahnmale statt Denkmäler der Heldenverehrung waren mir für Deutschland bislang erst für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg bekannt. Der französische Wikipedia-Artikel verweist allerdings auf ein Denkmal in Strümpfelbach bei Stuttgart, das bereits nach dem Ersten Weltkrieg mit der Inschrift „Nie wieder Krieg!“ entstanden ist. Die in der NS-Zeit entfernte Inschrift wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erneuert.

Weiterlesen – Teil 2: Deutschland

Rehabilitation 1914-18

In Ergänzung zu dem vorangegangenen Beitrag folgt hier nur der kurze Hinweis, dass es in Frankreich eine Bewegung gibt, die die Rehabilitation der „zur Aufrechterhaltung der Disziplin in der Truppe“ standrechtlich erschossenen Soldaten aus dem „Großen Krieg“ fordert. Die Gründe für die Verurteilung sind vielfältig. Für den Ersten Weltkrieg sind hier aber vor allem zu nennen Selbstverstümmelung (siehe auch das Buch bzw. den Film: Un long dimanche de fiançailles / Mathilde – eine große Liebe), Desertion, Verlassen des Postens sowie Ungehorsam vor dem Feind.

France3 berichtet über eine Kundgebung in Dijon, Burgund Unten auf der Seite sind ein paar interessante weiterführende Links angegeben. Die Materialien sind sicher auch interessant speziell für den bilingualen Fachunterricht. Zu dem Thema gibt es auch einen Artikel in der französischsprachigen Wikipedia, der recht detailliert, allerdings nicht mit anderen Sprachversionen verlinkt ist.

Literatur- und Materialhinweise zur Beitragsserie: Arbeiterbewegung und Erster Weltkrieg

Literaturauswahl

BLÄNSDORF, A., Die Zweite Internationale und der Krieg. Die Diskussion über die internationale Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien, Stuttgart 1979.

DONGEN, B. van, Revolutie of integratie. De Sociaal Democratische Arbeiders Partij in Nederland tijdens de Eerste Wereldoorlog, Amsterdam 1992.

GEURTSEN, T., Een geschiedenis van verloren illusies. Socialdemocratie in Nederland, Amsterdam 1994.

GRASS, M., Friedensaktivität und Neutralität. Die skandinavische Sozialdemokratie und die neutrale Zusammenarbeit im Krieg. August 1914 bis Februar 1917, 1975.

HAEGENDOREN, M. van, Le parti socialiste belge de 1914 à 1940, Brüssel 1995.

HAUPT, G., Der Kongreß fand nicht statt. Die sozialistische Internationale 1914, Wien 1967 (erweitert. engl. Aufl.: Socialism and the great war. The Collapse of the Second International, Oxford 1972).

LADEMACHER, H., (Hrsg.), Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Konferenzen, 2 Bde., 1967.

LIEBMAN, M., Les socialistes belges – Le P.O.B. face à la guerre, Brüssel 1986.

———-, Les socialistes belges 1885-1914. La révolte et l’organisation, Brüssel 1979.

LIGT, B. de, Vrede als daad. Beginselen, geschiedenis en strijdmethoden van de direkte aktie tegen de oorlog, Arnheim 1931.

MEYNELL, H., The Stockholm Conference of 1917, in : International Review for Social History 5 (1960), S. 1-25, 202-225.

MILLER, S., Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg, Düsseldorf 1974.

MOMMEN, A., De Belgische werkliedenpartij. Ontstaan en ontwikkeling van het reformistisch socialisme (1880-1914), Gent 1980.

RIEMENS, M. J., Een vergeten hoofdstuk. De Nederlandsche Anti-Oorlog Raad en het Nederlands pacifisme tijdens de Eerste Wereldoorlog, Groningen 1995.

RITTER, G. A. (Hrsg.), Die Zweite Internationale 1918/1919. Protokolle, Memoranden, Berichte und Korrespondenzen, 2 Bde., Berlin 1980.

STILLIG, J., Die russische Februarrevolution 1917 und die sozialistische Friedenspolitik, 1977.

TROELSTRA, P.J., Gedenkschriften, 4 Bde., Amsterdam 1931.

UNFRIED, B. u.a. (Hrsg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Leipzig 2008.

VANDERVELDE, E., La Belgique envahie et le socialisme international, Paris 1917.

Online-Material für den Unterricht

Quellen zur Entwicklung der Sozialistischen Internationalen (1907-1919): http://library.fes.de/si-online/index.html

Protokolle der Sozialdemokratischen Parteitage (1910-1919): http://library.fes.de/parteitage/index-pt-1910.html

Chronik der deutschen Sozialdemokratie: http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/

Fotos Library of Congress „Women’s Peace Parade 1914

The Guardian –  Foto: Friedensdemonstration Trafalgar Square in London: http://www.theguardian.com/commentisfree/2012/dec/10/history-curriculum

Britische Propagandaschrift „Belgian Miners Form Living Shield for Germans“ (leider ohne weitere Angaben) http://stahlgewitter.files.wordpress.com/2011/02/propaganda_21.jpg

Deutsche Propaganda Bildpostkarte von 1914 „Der Kaiser rief und alle kamen“ http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/displayimage.php?album=87&pos=22

In die Zukunft gedacht. Bilder und Dokumente zur deutschen Sozialgeschichte: Wilhelm II. und der Erste Weltkrieg (1890-1918) https://www.in-die-zukunft-gedacht.de/de/page/68/epoche/130/epochen.html

Fortschrittsdenken und Geschichtsunterricht

Dass Schülerinnen und Schüler mehrheitlich mit dem Konzept von Fortschritt an die Gegenstände historischen Lernens herangehen ist mittlerweile vielfach empirisch belegt. Geschichte präsentiert sich Schülern als Erfolgsgeschichte des immer Schnelleren, Weiteren, Besseren. Viel zu wenig Beachtung hat m.E. in diesem Zusammenhang bisher die Rolle der Geschichtscurricula und -bücher bei der Konstruktion oder zumindest Unterstützung dieses Konzeptes gefunden.

Um kurz zu rekapitulieren: Was bedeutet das unterschwellig vorhandene Fortschrittskonzept für historisches Lernen? Für Schüler heißt es oft: Abstand zur Vergangenheit, i.S. von „die“ konnten das „damals“ noch nicht wissen, „wir“ sind da heute viel „weiter“. Daraus kann sich dann ein Überlegenheitsgefühl der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit ableitenn. Gerade dieses verhindert aber historisches Lernen.

Ein Blick auf typische (so schwierig und pauschal das jetzt auch sein mag) Themen und deren Abfolge im Geschichtsunterricht zeigt aber eben eine Auswahl erfolgreicher Entwicklungen: vom Absolutismus zur Demokratie (englische, us-amerikanische und französische Revolution), vom Ackerpflug zum Computer (bäuerliches Leben und Handwerk in Mittelalter und Früher Neuzeit über Manufakturen zu Liberalismus und Industrialisierung ) ebenso wie bei Philosophie und Religion (Mittelalter – Renaissance / Humanismus – Aufklärung). Nuancen, Brüche und Gegenentwicklungen verschwinden dabei weitgehend: Die meisten Schüler verstehen das Besondere des Absolutismus nicht, weil sie keine Ahnung von Herrschaft und Mitbestimmungsrechten seit dem Mittelalter haben (siehe auch das aktuelle Heft von Geschichte lernen).

Es gibt wenige Stelle, wo „Scheitern“ im Geschichtsunterricht ausdrücklich thematisiert wird: die Revolution von 1848/49, die aber als Bezugpspunkt für die Demokratieentwicklung noch positiv umgedeutet wird, im schlimmsten Fall behalten die Schüler, dass die Zeit noch nicht „reif“ war (ähnliches gilt für die Französische Revolution); und  ohne Einschränkung das Scheitern der Weimarer Republik, das wiederum von Schülern und Lehrkräften meiner Erfahrung nach als eines der spannendsten Themen angesehen wird. Und das eben nicht nur, weil hier eine „Urfrage“ der Beschäftigung mit Geschichte heute thematisiert wird („Wie war Hitler möglich?“).

Gerade in der Thematisierung von gescheiterten Entwicklungs- und Reformversuchen liegt m.E. eine enormes, bisher kaum berücksichtigtes didaktisches Potential, weil hier aufgezeigt werden kann, dass der Gang der Geschichte eben nicht nur, wie die Auswahl von Geschichte für den Geschichtsunterricht oft suggeriert, Fort- sondern auch Rückschritte und Rückschläge beinhaltet. Außerdem lassen sich an solchen Gegenständen auch sehr gut  Fragen nach Relevanz und Auswahl historischer Themen für den Unterricht stellen. Gerade wenn man exemplarisch das Scheitern an einem Gegenstand herausgreift, der nicht im Geschichtsbuch steht, lassen sich solche Fragen  mit Schülern gewinnbringend diskutieren. Die oft beklagte Stofffülle und die geringe Stundenzahl stehen dem nicht im Wege, wenn man das Prinzip der Exemplarität wirklich ernst nimmt.

Drei mögliche Themen, um das „Scheitern“ im Geschichtsunterricht beispielhaft zu thematisieren, sind z.B.

1) Die Friedensbewegung vor dem 1. Weltkrieg. Jeder Lehrer kennt das vermutlich aus dem Unterricht, dass Schüler meinen heute wäre der Kriegsausbruch wäre so nicht mehr möglich. Warum steht denn viel über die „Kriegsbegeisterung“ in den Geschichtsbüchern, aber nichts über die Friedensdemonstrationen, die 1913/1914 Hunderttausende in ganz Europa auf die Straßen brachten? Nur, weil sie nicht erfolgreich waren? Die Thematisierung dieser Bewegung kann uns ein Stück unserer gegenwärtigen Überheblichkeit nehmen.

2) Die korsische Revolution von 1755: Unter Pasquale Paoli gibt sich Korsika die erste geschriebene demokratische Verfassung der Neuzeit, lange vor den USA, Polen oder Frankreich und erklärt sich zugleich von Genua unabhängig. Die Genusesen überlassen die Insel Frankreich, das mit seinen überlegenen Truppen 1769 die korsische Demokratie und Unabhängigkeit blutig beendet. Die französischen Revolutionäre schließlich bestätigen 1789/90 die Annexion Korsikas, die bekanntlich bis heute Bestand hat

3) Dasselbe gilt für die polnische Verfassung und Reform von 1791. Gerade im Vergleich mit Frankreich und den USA können hier tiefere Einsichten gewonnen werden, weswegen „Scheitern“ als Gegenkonzept zu „Fortschritt“ einen Platz in Geschichtsdidaktik  und -unterricht erhalten sollte.