Die Tagung Geschichte lernen digital war sehr anregend und bestens organisiert. Die vielen Eindrücke sind noch frisch und müssen nach und nach geordnet und verarbeitet werden. Deshalb möchte ich auch gar keinen allgemeinen Tagesbericht schreiben. Wer mag, kann in den folgenden Tagen die Aufzeichnungen der Vorträge auf dem L.I.S.A.-Portal nachschauen. Ab Juni werden die ausgearbeiteten Beiträge zum Peer-Review im Netz stehen.
Die Tagung kann den Anfang eines schwierigen, aber konstruktiven Dialogs bilden, der unterschiedliche Perspektiven von u.a. Geschichtsdidaktikern, Lehrkräften, Aus- und Fortbildnern auf die Veränderungen von Geschichtslernen im digitalen Zeitalter einbindet. Eine wichtige Perspektive, die auf der Tagung fehlte, war übrigens die der Lerner. Es wäre eine Überlegung wert, diese Ernst zu nehmen und miteinzubeziehen. In welcher Form das geschehen könnte, müsste man schauen.
Einen Gedanken aus der Abschlussdiskussion möchte ich in diesem Beitrag noch einmal herausgreifen, da er mir im Rückblick während der zwei Tage in München zu kurz gekommen scheint. Große Teile der Tagung waren auf die Angebotsseite fokussiert und standen unter einem instrumentellen Verständnis des Digitalen. Es ging darum, wie Lernplattformen, digitale Werkzeuge und Materialien sinnvoll für den Geschichtsunterricht sinnvoll genutzt werden können, um diesen zu verbessern bzw. nachzuweisen, dass sie es nicht tun. Die Formulierung macht es schon deutlich und vor allem Lisa Rosa hat in der Diskussion wie auch auf Twitter darauf hingewiesen: Digitale Medien werden so nur als Mittel bzw. Werkzeuge begriffen. Das ist aber ein Verständnis, das angesichts der kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, zu kurz greift. Es geht um das “Lernen unter den Bedingungen der Digitalität”. Auch ohne digitale Medien erfolgt Lernen und Arbeiten heute immer unter diesen Bedingungen.
Daraus ergibt sich die für meinen Arbeitszusammenhang als Lehrer wichtige Frage, wie sich Schule und (Geschichts-) Unterricht unter diesen Bedingungen verändern und wie darauf zu reagieren ist. Das sind in der Tat zunächst keine fachspezifischen Beobachtungen, und sie sind deshalb vielleicht weniger im Blickfeld der Geschichtsdidaktik, aber diese Bedingungen sind auch für den Geschichtsunterricht grundlegend, weil sie den Rahmen für formales historisches Lernen in der Schule bilden.
Um verständlicher zu machen, was das bedeutet und welche Veränderungen gemeint sind, möchte ich exemplarisch drei Beobachtungen aus dem Schulalltag noch einmal zusammenfassen:
– Bei einem vorbereitenden Besuch für ein Comenius-Projekt in einer zentralanatolischen Stadt in der Türkei hatte ich ein längeres Gespräch mit einem Oberstufenschüler. Er erklärte mir, dass der Geschichts- und Religionsunterricht ideologisch gefärbt sei. Das, was die Lehrer erzählten und was in den Schulbüchern steht, würde er immer noch einmal mit eigenen Recherchen im Internet überprüfen, um sich eine eigene unabhängige Meinung zu bilden. Nichtsdestotrotz lernt er das im Unterricht Dargebotene auswendig und erzielt exzellente Noten in Tests und Klausuren, weil diese Zulassungsvoraussetzung für eine gute Universität später sind. Lehrer und Schulbuch, und damit der Staat über die Schule, haben ihre Deutungshoheit verloren. Die Schule hat übrigens nicht mal eine Schulbibliothek
– Schüler organisieren ihre Lern- und Arbeitsprozesse zunehmend selbstständig und kollaborativ z.B. in Facebook-Gruppen, die parallel zu ihren Kursen laufen. Dort werden Fragen gestellt, Hausaufgaben gemacht, Klausuren vorbereitet. Die Lehrer sind außen vor und viele Kollegen wissen vermutlich nicht einmal um diese Parallelstrukturen. Daraus ergeben sich aber Fragen nach dem Sinn z.B. von Hausaufgaben und von Aufgabenformaten. Um einen älteren Spruch sinngemäß zu zitieren: Wenn sich die Antwort auf eine Frage in wenigen Sekunden googeln lässt, dann ist nicht Googel schlecht, sondern die Frage.
– Das gleiche gilt auch für den Unterricht selbst. Laut Statistiken haben Schüler weiterführenden Schulen eine 100% Ausstattung mit Handys. Davon ist eine wachsende Zahl Smartphones. Schulen reagieren in der Regel weiterhin mit „Handy“-Verboten. Das hindert aber Schüler nicht unter dem Tisch ihre Handys zu nutzen, auch gezielt für den Unterricht, um z.B. Antworten auf Lehrerfragen zu googeln. Wenn ihnen diese Frage-Antwort-Spiele, worauf Martin Lindner zu Recht hinweist, nicht sowieso zu dumm sind und sie sich diesen grundsätzlich entziehen, was in der Qualifikationsphase der Oberstufe sicher schwieriger ist als in der Mittelstufe. Ein sinnvoller Unterricht darf nicht auf Fragen aufbauen, deren Antworten sich schnell googeln lassen.
Auf der Tagung wurde von Marko Demantowsky zu Recht festgestellt, dass sich die Grundformen historischen Denkens und Lernens in der Auseinandersetzung mit Quellen und Darstellung in den Modi von Re- und Dekonstruktion nicht ändern. Was sich aber sehr wohl ändern kann bzw. ändern muss, sind u.a. Unterrichtsgestaltung, Aufgabenformate und Lernprodukte.
Jan Hodel hat darauf hingewiesen, dass wir uns mitten in einem Wandel befinden, dessen Ende wir noch nicht absehen können. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deswegen ist eine ebenso experimentelle wie reflexive Praxis nötig, die sich öffnet und den Dialog mit den Lernenden sowie eine fachdidaktische Fundierung sucht, um nicht beliebig zu werden. Umgekehrt scheint es mir eine dringende Aufgabe der Geschichtsdidaktik auch die veränderten allgemeinen Bedingungen von Schule und Unterricht in den Blick zu nehmen, das Fach und seine Praxis zu ihnen in Beziehung zu setzen, und in einem Dialog mit der Praxis den Geschichtsunterricht weiterzuentwickeln. Der auf der Tagung ankündigte Arbeitskreis innerhalb der KGD könnte dafür ein zentrales Forum bilden.