M, D oder Q?

Gestern habe ich auf den Schulbuchrezensionen auf edumeres gestöbert. Dabei bin ich über eine Kritik gestolpert, die ich so auch schon in Fachkonferenzen gehört habe: Das betreffende Schulbuch wurde Quellen und Darstellungen „undifferenziert“ als „Materialien“ darbieten. Dabei sei es aber eigentlich wichtig, dass Schülerinnen und Schüler auch schon in der Sekundarstufe I diesen grundlegenden Unterschied begreifen und erlernen.

Ist das nun wirklich ein Fehler, dass viele Schulbücher „M“ statt „D“ und „Q“ schreiben? Eigentlich ist doch der Zugang zu Texten und Bildern stark abhängig von der Fragestellung. Die Zuordnung als Quelle oder Darstellung ist in vielen Fällen alles andere als eindeutig. Und selbst, wenn man sich für die Eindeutigkeit einer entsprechenden Kennzeichnung entscheidet: „Lernen“ Schülerinnen und Schüler diese Unterscheidung selbst vorzunehmen?

Das scheint mir viel eher gegeben, wenn ich das, ohne dass es durch das Buch markiert und vorgegeben ist, im Unterricht thematisieren, diskutieren und begründen lassen kann, ob es sich bei dem vorliegenden Material um eine Quelle oder eine Darstellung handelt. Das ist sicher nicht in jeder Stunde notwendig, aber wenn man dies an verschiedenen Materialien im Lauf des Schuljahrs immer wieder diskutiert, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass hierfür ein tiefergehendes Verständnis wächst. Nur das Lesen einer vorgegebenen Einordnung wird das nicht leisten.

Insofern könnte man im Sinne der Arbeit mit dem Schulbuch eher davon sprechen, dass die Kennzeichnung aller Materialien mit einem „M“ positiv zu bewerten ist. Offen bleibt allerdings noch die Frage nach den Verfassertexten: Das sind von den Schulbuchautoren verfasste Darstellungen. Eigentlich sollten sie im Unterricht auch methodisch als solche behandelt werden. Arbeitsanregungen für einen derartigen Umgang mit den Verfassertexten fehlen – soweit ich das sehe – noch in den aktuellen Schulgeschichtsbüchern. Man findet sie aber z.B. im Buch Schulbucharbeit von Bernd Schönemann und Holger Thünemann.

#OER in Norwegen – ein interessanter Blick über den Tellerrand

Vor ein paar Tagen hatte ich im Blog von Leonardo Quintero folgendes gelesen:

Die staatlichen Behörden Norwegens haben sich offensichtlich vor einiger Zeit direkt an die Autorinnen und Autoren von Unterrichtsmaterial gewandt und diese gefragt, ob sie nicht bereit wären, für das doppelte Gehalt lizenzfreie (gemeinfreie?) Unterrichtsmaterialien für die staatlichen Schulen zu erstellen. Das gute an diesem Ansatz ist erstens: es musste kein einziges Gesetz bezüglich des Urheberrechts geändert werden und zweitens musste kein einziger Verlag angeschrieben werden, in wie weit eine digitale Mediennutzung seiner Materialien erlaubt sei.

Auch wenn Damian Duchamps in einem Kommentar dort sicher nicht zu unrecht darauf hinweist, dass eine vergleichbare Initiative in Deutschland zur Zeit vermutlich (noch?) wenig Aussichten auf Erfolg hätte, klang der Ansatz beispielhaft und ich wollte mehr darüber erfahren. Also habe ich ein paar norwegische Kollegen angeschrieben. Das Resultat ist bislang bescheiden, aber nicht uninteressant.

Da ich selbst kein Norwegisch kann, die Seiten aber nur auf Norwegisch verfügbar sind, habe ich den Google Translator genutzt und verlinke das auch entsprechend hier. Wer selbst Norwegisch lesen kann, kann den Übersetzer ja wegklicken.

Zum einen wiesen mich die Kollegen auf ein Ning-Lehrernetzwerk (d&b) hin, dass u.a. auch ein Wiki und eine Social Bookmarking-Gruppe bei Diigo nutzt. Der Aufbau und die Kombination der Werkzeuge ist nicht uninteressant, aber letztlich vergleich den Lehrerportalen, die wir im deutschsprachigen zum Austausch von Materialien auch haben. Zur Entstehung des Portals und zur Lizenzierung der Materialien habe ich auf Anhieb nichts gefunden.

Der Hinweis aus dem Blogzitat bezog sich vermutlich auf den zweiten Link, den mir die Kollegen aus Norwegen geschickt haben: NDLA – Digitale Lernmaterialien für die Sekundarstufe (so die Google-Übersetzung).

Ich muss ja nicht alles aufschreiben, was man woanders nachlesen kann: Zur Entstehungsgeschichte und den Hintergründen des Portals finden sich Informationen in der norwegischen Wikipedia (Die Nynorsk-Version ist hier verlinkt und bietet etwas mehr Informationen als in Bokmål).

Hier wurde tatsächlich durch den Staat, finanziert durch Bildungsministerium und getragen von regionalen und lokalen Behörden, ein Portal für digitale CC-lizenzierte Unterrichtsmaterialien geschaffen, und das bereits seit 2007! Wenn ich das richtig verstanden haben, dann haben Schüler der weiterführenden Schulen seitdem ein gesetzlich garantiertes Anrecht auf kostenlose Unterrichtsmaterialien in Norwegen. Statt den Weg über eine staatliche Finanzierung Schulbuchausleihe hat man sich damals wohl dann für den Aufbau eines entsprechenden Online-Portals entschieden.

In beiden Wikipedia-Einträgen wird deutlich auf die Probleme und Kritik an dem Projekt, natürlich besonders von Seiten der (norwegischen) Schulbuchverlage hingewiesen. Kritik kommt aber auch von den Lehrerverbänden, die am Ende der Entwicklung ein staatliches Monopol bei den Lehrmaterialien und eine Vereinheitlichung des Unterrichts fürchten.

Die Situation scheint auf den ersten Blick der deutschen gar nicht so unähnlich, nur dass sich Norwegen bzw. das Bildungsministerium und andere staatliche Einrichtungen schon vergleichsweise früh einen ganz anderen Weg eingeschlagen haben als ihn die deutsche KMK nun zu gehen versucht.

Wie umstritten das Projekt auch in Norwegen ist, zeigen allein schon die Titel der unter dem Wikipedia-Artikel verlinkten Zeitungsartikel (siehe z.B. hier). Der Blick über den deutschen Tellerrand lohnt sich auf jeden Fall, nicht nur für Lehrkräfte.

Darstellung von Archiven in Schulgeschichtsbüchern

Thomas Wolf hatte in der vergangenen Woche auf Archivalia einen kurzen Beitrag zum Thema mit der Überschrift „Archivzitat: Mitmischen 2 oder Voruteile in Lehrbüchern“ geschrieben. Ich habe mich gefragt, inwiefern die Fundstellen repräsentativ ist. Also habe ich mir mal ein paar zufällig ausgewählte, für Rheinland-Pfalz zugelassene Geschichtsbücher geschnappt, die hier im Arbeitszimmer rumstehen und nachgeschaut, was die so zu Archiven schreiben:

Das waren Zeiten 1, Ausgabe C, Buchner-Verlag, Bamberg 2002, S. 12.

„Wenn du meh über die Geschichte deines Heimatortes erfahren willst, als bisher bekannt ist, kannst du im Archiv forschen. Dort werden werden Urkunden, Akten, Ratsprotokolle, Briefe, Karten, Pläne, Fotos, Zeitungen und Tondokumente gesammelt, geordnet und aufbewahrt. Computer haben die Sammlung und Benutzung von Archivalien gegenüber früher stark verbessert.

[…] Archive heben nicht alles auf. Gesammelt wird nur, was der Archivar als aufbewahrungswert ansieht. Da sich die Meinung darüber im Lauf der Zeit geändert hat, lassen sich mit den heutigen Archivbeständen nicht alle Fragen beantworten, die uns interessieren. […]“

Geschichte und Geschehen 1/2, Ausgabe C, Klett-Verlag, Leipzig 2005, S. 14ff.

[Zwei Seiten über Zeitzeugen, zwei Seiten über Quellen und die Arbeit von Historikern. Archive kommen hier nicht vor. – Wenn man das so liest, muss man sich schon fragen, wo die „Historikerinnen und Historiker“ als „Detektive“ ihre vielen Quellen so finden… vermutlich am Tatort oder direkt als Zusammenstellung in Schulbüchern ;)]

Oberstufenbücher:

Kursbuch Geschichte. Neue Ausgabe Rheinland-Pfalz, Cornelsen, Berlin 2009.

Zeiten und Menschen 1, Schöningh, Paderborn 2007.

Buchners Kolleg Geschichte, 3 Bände, Buchner-Verlag, Bamberg ²2005.

Geschichte und Geschehen, Sekundarstufe II, 2 Bände, Klett-Verlag, Leipzig 2005 bzw. 2007.

[In allen vier Oberstufenwerken gleichfalls Fehlanzeige.]

Es war einmal der Mensch…

Die Serie habe ich als Kind geliebt… interessant das jetzt nochmal anzuschauen, welche historischen Inhalte hier wie vermittelt werden.

Aus einer Diskussion mit @BGrafenstein auf Twitter hat sich ergeben, dass wir die Idee, dass die gleichen Figuren durch verschiedene Zeiten führen, eigentlich ganz gelungen finden. Fand ich persönlich als Kind auch toll. In Schulbüchern auch noch für die Mittelstufe, zumindest in den Fremdsprachen, gibt es fiktive Charaktere, die durch die Inhalte der Bücher führen. Es ist also nicht nur eine Frage des Alters, wenn das Konzept auch in der Grundschule natürlich viel verbreiteter ist. Aber warum gibt es das nicht für Geschichte? Oder kennt jemand ein entsprechendes Beispiel?

Spontan fallen mir mehrere Vorteile ein, die Einführung solcher Charaktere in Schulgeschichtsbüchern mit sich bringen könnte:

– Orientierungshilfe, „roter Faden“ für Schülerinnen und Schüler

– kindgerechte Darstellung

– Identifikationsangebot(e), Empathiefähigkeit (letztlich gilt hier vieles, was in den letzten Jahren zum Einsatz von Kinder- und Jugendbüchern im Geschichtsunterricht geschrieben wurde)

– damit einhergehend stärkere Berücksichtigung durch Integration von Kindheits- und Alltagsgeschichte

– wie in der TV-Serie auch über die fiktiven Charaktere Einbindung humorvoller Elemente (Schulgeschichtsbücher sind ansonsten gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Humor), was die Darstellung auflockern und Kinder motivieren kann.

Fällt jemanden noch etwas ein?

Schulgeschichtsbücher in der Welt

In der Welt Online vom 30.04. findet sich ein sehr kritischer Artikel zu Schulgeschichtsbüchern mit dem Titel „Wer war das nochmal? Schulbücher werden üblicherweise nicht rezensiert. Dabei haben sie Kritik bitter nötig. Eine Probe aufs Exempel“. Der Autor kritisiert vor allem den Bildungsföderalismus, die in den Büchern gestellten, oft suggestiven Aufgabenstellungen (wo er Recht hat!) und quer durch den Salat inhaltlich verzerrende oder falsche Darstellungen, um abschließend zu dem Fazit zu kommen: „In der Regel lernen Kinder nicht in, sondern trotz der Schule.“

So ein Quatsch! Der ganzen Kritik liegt u.a. die Gleichsetzung von Schulbuch und Unterricht und damit der Fehlannahme zugrunde, dass wir (Geschichts-) Lehrer zu doof seien, inhaltliche Fehler von Schulbüchern nicht ebenso wie der Autor erkennen zu können und Aufbau und Aufgaben der Bücher eins zu eins im Unterricht zu übernehmen. Auch an anderen Stellen verkürzt der Autor unzulässig oder hat schlecht recherchiert. Wer das nachlesen mag, sei auf den aktuellen Beitrag auf edumeres.net hingewiesen, über den ich erst auf den Welt-Artikel aufmerksam geworden bin. Die Lektüre allerdings hätte ich mir auch sparen können.

Bericht zum deutsch-polnischen Schulgeschichtsbuch

Die aktuelle Ausgabe der Polen-Analysen widmet sich dem gemeinsamen Schulbuchprojekt mit einem Beitrag von Krzysztof Ruchniewicz. Die Polen-Analsysen werden vom Deutschen Polen-Institut hin Darmstadt erausgegeben und sind kostenlos als PDF-Dokument herunterladbar.

Wenn man das so liest, dann sieht es wohl (leider) eher nicht gut damit aus, dass das Projekt auch eine Umsetzung erfährt…

Das Alte Ägypten in Schulbuch und Unterricht

Der Beitrag von Burkhard Backes und mir ist gerade auf Edumeres erschienen und dort als PDF downloadbar. Mit dem Artikel, der auf eine Diskussion hier im Blog zurückgeht, wollen wir auf Probleme aufmerksam machen, die wir in diesem Bereich aus unseren unterschiedlichen Perspektiven als Fachwissenschaftler bzw. Geschichtslehrer wahrnehmen. Wir sehen den Text als (hoffentlich anregenden) Diskussionsbeitrag und denken, dass eine weitere Diskussion, die die verschiedenen beteiligten Gruppen (Lehrer, Didaktiker, Ägyptologen und Schulbuchverlage) zusammenführt, wünschenswert notwendig ist. Wer mag, kann gerne die Kommentarfunktion des Blogs hier nutzen. Wir freuen uns über ergänzende Beobachtungen, Erfahrungen und (kritische) Rückmeldungen.

Authentisches Geschichtslernen?

In Bezug auf die Fremdsprachen bedeutet „authentisches Lernen“ das Lernen in direktem Kontakt mit Muttersprachlern (im Land selbst oder über Kommunikationswerkzeuge) oder das Lernen an Originalmaterialien. Etwas weiter gefasst meint authentisches Lernen, u.a. das Arbeiten an echten, d.h. auch offenen, Problemstellungen.

Natürlich würde niemand einem Anfänger im Englisch- bzw. Französischunterricht Shakespeare oder Molière in die Hand drücken. Statt aber nur mit den Fremdsprachenschulbüchern zu arbeiten, werden zunehmend angemessen authentische, hier i.S. von nicht explizit für schulisches Lernen erstellte, Materialien der Zielsprache eingesetzt. Das können einfache Werbeanzeigen, Zugfahrkarten, Fernsehnachrichten, die Wettervorhersage oder ähnliches sein. Also Original-Material, das natürlich für das entsprechende sprachliche Niveau ausgewählt und eventuell mit Hilfestellungen wie z.B. Vokabelangaben versehen im Unterricht eingesetzt wird. Es soll die Lernenden dazu befähigen, sich die Inhalte dieser Produkte zu erschließen und bei einem möglichen Besuch im Zielsprachenland kompetent damit umzugehen.

Lässt sich diese Idee auch für den Geschichtsunterricht übertragen? Schulgeschichtsbücher präsentieren im wesentlichen für den Unterricht verfasste Darstellungstexte, die weiterhin die Möglichkeit einer faktenorientierten Meistererzählung vorgaukeln, weil sie in ihrem Konstruktcharakter nicht offen gelegt werden. Dazu kommen schriftliche Quellenschnipsel und Bilder, die beide oft nur illustrativen Charakter haben, sowie Grafiken und Statistiken. Natürlich kann man keine mittelalterlichen Urkunden im Faksimile ausgeben und besprechen.

Eine passende Analogie für den Geschichtsunterricht wäre die Arbeit mit geschichtskulturellen Produkten, also z.B. Geschichte in Werbeanzeigen und -spots, in Filmen und Dokumentationen, Computerspielen, Ausstellungen, Festen und Denkmälern vor Ort.

„So viel Geschichte wie heute war nie“. Klaus Bergmann schrieb bereits 1993 von der „Allgegenwart von Geschichte“. Im Hier und Jetzt mit diesen historischen Verweisen kompetent umgehen, sie entschlüsseln und verstehen zu können, sollte eines der Hauptziele des  Geschichtsunterrichts in allen Schulformen (!) sein. Das lässt sich an den Produkten der Geschichtskultur selbst viel besser lernen als an der Häppchen-Geschichte der Schulgeschichtsbücher.

Und um möglicher Kritik zuvorzukommen: Nein, damit ist kein „Entweder-Oder“ gemeint, sondern ein Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung geschichtskultureller Zeugnisse in Lehrplänen und Unterricht, bei deren Einsatz sich dann meines Erachtens tatsächlich von „authentischem Geschichtslernen“ sprechen ließe.

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P.S. Einige empirische Untersuchungen zeigen übrigens auf, dass nicht nur Schülerinnen und Schülern, sondern auch Studierende der Geschichte an die Möglichkeit einer gültigen faktenorientierten Geschichtserzählung glauben und gerade deshalb ein entsprechendes Studium aufnehmen, weil sie (ganz positivistisch eingestellt) lernen wollen, wie das damals gewesen ist.

Beim Berufseinsteig als Lehrer/innen greifen sie dann auch weniger auf die Inhalte ihres Studiums, sondern in hohem Maße auf die in der eigenen Schulzeit erworbenen impliziten Theorien über Geschichte zurück. Diese werden so wieder an die Schüler/innen vermittelt und es entsteht eine hartnäckige Tradition von Schulgeschichtsunterricht, der Gefähr läuft, sich von der Enwicklung der Didaktik und Wissenschaft abzukoppeln und zu einem Teufelskreis sich selbst reproduzierender Vorannahmen und Unterrichtsformen zu werden (vgl. Fenn, S. 79ff. , in: Geschichte und Sprache).

Rezension: Schulbucharbeit

Bernd Schönemann / Holger Thünemann, Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis, Schwalbach/Ts. 2010.

Die Enttäuschung zunächst einmal vorne weg: Das Buch bietet viel weniger Praxisbezug als der Untertitel suggeriert. Von den insgesamt rund 190 Seiten sind weniger als 60 der konkreten Arbeit mit dem Schulbuch im Unterricht gewidmet. Der Hauptteil des Textes ist Strukturmerkmalen, Kategorisierung, Typologien, ökonomischen und gesellschaftlichen Bezügen und der Geschichte von Schulbüchern gewidmet. Ein Kapitel bietet zudem einen Überblick zur Schulbuchforschungt. Die wenigen Abbildungen aus Schulgeschichtsbüchern sind so klein gedruckt, dass sie im Buch kaum zu lesen sind und damit auch für eine mögliche praktische Weiterverwendung im Unterricht oder der Lehrerfortbildung nicht geeignet sind.

Einige gelungene Unterrichtsanregungen lassen sich dem Buch für die Praxis dennoch entnehmen: Hervorzuheben ist hier die Idee der „kritische[n] Schulbucharbeit“, in der „das Schulbuch als Lernmedium in Frage gestellt [und] seine Narrationen analysiert und mit anderen historischen Deutungsangeboten verglichen werden.“ (S. 136) Angesichts der Schwierigkeit und Komplexität ist dies wohl etwas für den Unterricht am Gymnasium und selbst dort tendenziell eher für die Oberstufe. Gut finde ich die Idee,  einzelne Darstellungen oder Kapitel des eingesetzten Lehrwerks nicht nur synchron, sondern auch diachron mit anderen Schulgeschichtsbüchern zu vergleichen.

Der Rest des „Praxisteils“ behandelt im Wesentlichen die Arbeit mit Schulbüchern als „Informationsentnahme durch Reorganisation“ (S. 143). Damit ist die Umwandlung von einer Form der Darstellung in eine andere gemeint, also z.B. einen schriftlichen Text in Form von Statistiken oder Schaubildern zu visualisieren oder umgekehrt diese Darstellungsformen aus dem Schulbuch zu verbalisieren bzw. daraus Tabellen, Zeitleisten und Mindmaps erstellen. Dies soll „eine intensive Auseinandersetzung mit bestimmen historischen Materialien“ anbahnen. (S. 155)

Wem das neu ist und innovativ erscheint oder wer sich für Theorie und Forschung zu Schulgeschichtsbüchern interessiert, der möge das Buch kaufen. Ansonsten bleibt noch hinzuzufügen, dass zumindest mir persönlich im abschließenden Teil zu „lehr-lernmethodische[n] Formen des Schulbucheinsatzes im Geschichtsunterricht“ ein Anknüpfen an die Fragen der Kompetenzorientierung fehlt.

Aufstände und Widerstand im 2. Weltkrieg in Schulbüchern

Zur Unterrichtsvorbereitung habe ich gestern, da im eingeführten Geschichtsbuch nichts enthalten war, in verschiedenen anderen Lehrwerken nach Darstellungen und Material zum Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 und zum Warschauer Aufstand 1944 gesucht.

Vielleicht habe ich zufällig die falschen Bücher zuhause, aber zu meinem Erschrecken habe ich fast nichts gefunden: Eine Seite in einem Mittelstufenbuch zum Ghetto-Aufstand mit Bild und zwei Quellen stach bei der Suche positiv hervor und war zugleich die umfangreichste Darstellung. Wenn überhaupt fanden sich in den anderen Lehrwerken einzelne Sätze zum europäischen Widerstand. In einem Buch war zwar in der Nachkriegsgeschichte der Kniefall Brandts ausführlich thematisiert, das Ghetto und der Aufstand zuvor jedoch nicht. Mir persönlich ist völlig unverständlich, wie hier Zusammenhänge verstanden werden sollen.

Aufgefallen ist mir beim Durchblättern der Werke, dass gerade die Bilder der Kapitel zum Holocaust weiterhin die Vorstellung von wehrlosen (jüdischen) Opfern „wie Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank“ unterstützen. Handlungsoptionen und jüdischer Widerstand werden (fast) nirgendwo thematisiert (siehe hingegen die anregenden Beiträge im Magazin von Lernen aus der Geschichte vom 20. Januar 2010). Fündig geworden bin ich dann in einem Heft von Praxis Geschichte aus dem Jahr 1995 (!), dem übrigens auch die beiden Quellenauszüge aus dem erwähnten Mittelstufenbuch entnommen sind. (Wobei mir natürlich bekannt ist, dass es einige jüngere Veröffentlichungen von Materialien für den Geschichtsunterricht gibt, ich habe aber leider eben nicht alles griffbereit am heimischen Schreibtisch. Außerdem handelt es sich eben um Zusatzmaterialien und nicht um Schulgeschichtsbücher.)

Es betrifft im übrigen nicht nur den Holocaust, sondern die unterschiedlichen Widerstandsbewegungen in ganz Europa: Was sich durchgängig in den Schulgeschichtsbüchern findet, sind vergleichsweise umfangreiche, mehrseitige  Kapitel zum deutschen Widerstand (vor allem Scholl, Kirche und Stauffenberg). Was ich mich frage: Wie  soll Europa zusammenwachsen, wie sollen deutsche Jugendlichen ihre Nachbarn verstehen, wenn sie nie (zumindest im Geschichtsunterricht nicht) etwas von der Armia Krajowa, der Résistance oder dem Verzet gehört haben? Die Mythen und die Diskussion um diese Bewegungen spielen in unseren Nachbarländern bis heute eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis und in der politischen Debatte.

Ist mein beschriebener Eindruck nicht völlig verkehrt und sind Schulgeschichtsbücher tatsächlich, wie so oft behauptet, weiterhin Leitmedium des Unterrichts, scheint mir hier – wiederum – eine höchst problematische Akzentuierung auf einen nationalstaatlichem Fokus vorzuliegen.

Gestern sind ja die Empfehlungen für ein deutsch-polnisches Geschichtsbuch vorgestellt worden. Man darf gespannt sein, inwiefern dies Anregungen zu einer notwendigen Perspektivverschiebung gibt und vielleicht zudem zu eingeführten Lehrwerken einen sinnvoll ergänzenden Materialfundus liefert.

Hinweise auf gute Materialien online oder auf Papier sind übrigens herzlich willkommen!