Buchtipp: Was können Abiturienten?

Der Unterttitel gibt sich bescheiden: „Zugleich ein Beitrag zur Debatte um Kompetenzen […]“. Es ist ein wichtiger Beitrag, den Schönemann et al. hier leisten. Indem sie sich die Leistungskursarbeiten des Abiturjahrgangs 2008 in NRW (Zentralabitur) vornehmen und daraufhin überprüfen, was die Abiturienten der Leistungskurse Geschichte, und damit der vermuteten höchsten Niveaustufe des schulischen Geschichtsunterricht, leisten. Die Ergebnisse sind in der Tat ernüchternd, vor allem angesichts der postulierten Zielsetzungen in Lehr- und Rahmenplänen sowie den verschiedenen normativ gesetzten Kompetenzmodellen.

Die vorliegende Studie ist deshalb so wichtig, weil sie helfen kann, „die Diskussion zu erden“ (S. 127) und die vorliegenden theoretischen Kompetenzmodelle „vom Kopf auf die Füße“ (S. 121) zu stellen. Empirische Studien zu einzelnen Kompetenzen liegen bisher nur in vereinzelten Artikeln vor. Einerseits gilt das Gymnasium als „überforscht“, andererseits sind hier noch grundlegende Arbeiten, allerdings nicht allein für das Gymnasium, notwendig. Diese Arbeiten sind dringend notwendig, um die Setzungen der Modelle, die bereits in Lehr- und Rahmenpläne sowie in Lehrwerke und Prüfungsanforderungen einfließen, zu überprüfen, möglicherweise zu korrigieren, zu stufen – zumindest für den kognitiven Bereich erscheint dies möglich – und erst damit praxistauglich zu machen.

Die im Vergleich zu den normative gesetzten Erwartungen schlechten Ergebnisse sind Mühlen auf des kulturpessimistischen Rezensenten der FAZ.  Das geht aber am Eigentlichen vorbei und auch an der vorsichtigen wissenschaftlichen Argumentation der Autoren. Der Resenzent möge bei Gelegenheit und in dem Zusammenhang mal überlegen, dass beim eingeführten Zentralabitur in NRW die Prüfungstexte und -aufgaben nicht mehr von einzelnen Lehrern gemacht werden (zum Lehrerbashing der Rezension, auch eine Art Habitus) und dass es auch in der Schule neben dem Hauptunterricht in Geschichte auch Fächer wie z.B. Deutsch gibt, wo Rhetorik und Konjunktiv gelernt werden könnten. („Offenbar fehlen im Geschichtsunterricht einige Stunden über Rhetorik und Textgattungen.“) Der Geschichtsunterricht ist nicht für alles verantwortlich und kann auch nicht alles leisten, aber schon der Auftakt der Rezension zeugt von wenig Fachkenntnis des Journalisten, insofern sollte man sich (bzw. ich mich) vermutlich nicht so darüber ärgern.

Das Buch ist auf jeden Fall in höchstem Maßen lesenswert, eine Pflichtlektüre für Geschichtslehrer und universitäre Didaktiker:

Bernd Schönemann / Holger Thünemann / Meik Zülsdorf-Kersting, Was können Abiturienten?  Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte, Berlin 2010. [Lit-Verlag]

Rezension: Hörbuch Spectaculum Mundi Medievalis

Das vorliegende Hörbuch stammt aus dem Verlag Berliner Hörspiele. Das Buch ist geschrieben und gelesen von Stephan Warnatsch, der als Lehrer in Berlin an einer Gesamtschule sowie als Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte an der TU Berlin tätig ist.

Warnatsch trägt seinen Text mit viel Engagement vor und man gewinnt den Eindruck, dass ihm die mittelalterliche Geschichte ein Herzensanliegen ist. In insgesamt 217 Minuten schlägt Warnatsch auf drei CDs einen großen Bogen von dem Quellenzugang zur mittelalterlichen Geschichte, über den Lebenslauf der Menschen, ihre Lebenswelt in Städten und auf dem Land bis hin zu Reisen, Festen und Fragen der Moral und Religion.

Das Buch ist hörenswert inszeniert und besticht vor allem durch die reiche Auswahl an interessanten Quellen, die von unterschiedlichen Sprechern vorgetragen werden. Gerade die vorgetragenen Quellen lassen sich hervorragend in den Unterricht integrieren. Zum einen weil sie ein weites Panorama der mittelalterlichen Welt eröffnen, zum anderen weil das Zuhören auf diese Weise nur selten vorkommt. Die Schüler in der Regel Quellentexte selbst laut vortragen oder leise erarbeiten. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass bei der Erfassung von Geschichtsstunden festgestellt wurde, dass sehr viel Zeit mit dem lauten Vorlesen von Texten im Unterricht zugebracht würde. Für ein Fach, dass sich als erarbeitend und problemorientiert versteht in der Tat ein erstaunlicher Befund. Auf jeden Fall scheint mir die Kombination von schriftlicher vorliegendem (oder anschließend reingereichtem) Quellentext und dessen professionellem Vortrag von CD eine kleine nette methodische Abwechslung für den Unterrichtsalltag.

Zum Teil scheint der Vortragsduktus beim Verfassertext von Warnatsch etwas schnell und überhastet und die an einigen Stellen etwas akademisch ironische Ausdrucksweise macht das Hörbuch in längeren Passagen selbst für den Unterricht in der Oberstufe schwierig. Text und Vortrag leben von der Lebendigkeit und den Kommentaren des Autors. Undifferenzierte Seitenhiebe wie die Andeutung, der Islam sei im Mittelalter verharrt, sind vollkommen unnötig und wären besser unterblieben. Ansonsten aber ingesamt ein Hörbuch, das Freude und Lust aufs ein sehr vielfältiges Mittelalter macht, das uns hier in seiner zeitgleichen Nähe und Fremdheit präsentiert wird.

Das Hörbuch kann auf den Seiten des Verlags in Auszügen angehört und als CD für 12,99€ bestellt werden.



Hörbuch-Rezension: Kleine Geschichte der Freien Universität Berlin

Im vorliegenden Hörbuch erzählt Wolfgang Wippermann, apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Freien Universität Berlin, die Geschichte „seiner“ Universität. Dabei gelingt es ihm, die Entstehungsgeschichte der Uni mit der Gründung 1948 in einen breiten welthistorischen Kontext einzubetten. Durch die Konkretisierung am Beispiel der Freien Universität wird der Weg in den sogenannten Kalten Krieg und die Rolle Berlins überaus anschaulich und ist damit als Hörausschnitt auch sehr gut im Unterricht als Einstieg oder Vertiefung des Themas sehr gut einsetzbar. Ähnliches gilt für die Schilderung der Vorgeschichte und Entwicklung der Studentenbewegung rund um das Symboljahr 1968, vor allem den mir bis dahin unbekannten „Fällen“ Kuby und Krippendorff, wobei letzteres,  heute gleichfalls Professor, als Zeitzeuge seine Geschichte selbst erzählt.

Weniger überzeugend sind die letzten beiden Kapitel gelungen, die die Zeit seit 1968 und vor allem die letzten 20 Jahre schildern, die Wippermann selbst als Dozent an der FU miterlebt hat und als Niedergang beschreibt und die abschließend zu einem hochschulpolitischen Kommentar des Bologna-Prozesses wird. Stark ist Wippermann dort, wo er mit Begeisterung von der Gründungsidee und der Erfolgsgeschichte der ersten Jahrzehnte der FU berichtet.

Das Hörbuch wird neben Wippermann noch von einem weiteren Sprecher, der die Übergänge zwischen den Erzählungen Wippermanns herstellt sowie Auszügen aus einem Zeitzeugengespräch mit Professor Krippendorff gestaltet. Zu Beginn findet sich ein O-Ton aus der Ansprache von der Übergabe des Henry-Ford-Baus  1954 durch den damaligen Innenminister Schröder. Davon hätte man sich mehr gewünscht, allerdings ist es eben nur ein Hörbuch und kein Hörspiel oder Feature , wobei die erzählte(n) Geschichte(n), angereichert durch O-Töne und Musik aus der Zeit noch spannender verpackt wäre(n).

Das Hörbuch ist eine Produktion der Berliner Hörspiele und dort für 14,90€ zu beziehen.

Buchtipp: Jonathan Hearn, Rethinking nationalism

Jonathan Hearn, Senior Lecturer an der Universtität Edinburgh, bietet mit seinem Buch eine Einführung in das Thema “Nationalismus” und zugleich – wie der Titel ankündigt – eine kritische Reflexion der disziplinär vielfältigen Theorieansätze. Das Buch ist zusammen mit Einführung und Schluss in zehn Kapitel unterteilt. In vier Hauptkapiteln bietet Hearn zunächst eine zusammenfassende Darstellung der wesentlichen Theorieansätze aus primordialistischer (Kap. 2, auch z.B. bei Langewiesche nicht ganz zutreffend als Ethnonationalismus bezeichnet) und modernisierungstheoretischer Sicht (Kap. 4). Die Kapitel 6 und 8 sind dem Zusammenhang von Kultur und Macht gewidmet. In den Kapitel mit den ungeraden Zahlen folgt daraufhin jeweils eine kritische Betrachtung des Vorangegangenen. Diese Aufteilung bringt es mit sich, dass das Buch sowohl zum Einstieg als auch zur weiteren Reflexion gut geeignet ist. Kenner der Thematik können sich auf das Lesen der kritischen Kapitel beschränken.

Für Hearn gehen Nation und Nationalismus aus der Interaktion von „ethnicity-making“ und „state-making“ Prozessen hervor. Deshalb spricht er sich gegen eine strikte Trennung der oft konträr gesehenen Theorien aus. Den Begriff des Nationalismus betrachtet er in seiner Arbeitsdefinition als das Kreieren von miteinander verknüpften Forderungen nach Identität, Rechtsprechung und Territorium im Namen der Bevölkerung. Moderner Nationalismus unterscheidet sich seiner Meinung nach vom älteren in Legitimation und Kommunikation eben dieser Forderungen. Ausgehend von der Hypothese, dass das Streben nach Macht zu den Grundverhaltensweisen der Menschen gehört, definiert er Nationalismus darüber hinaus als eine besondere, im weitesten Sinne moderne Art von Machtstreben.

An den primordialistischen Ansätzen kritisiert Hearn vor allem die mangelnde Berücksichtung der gesellschaftlichen Aspekte. Auch in der Analyse nationalistischer Symbole und Diskurse sieht er keine hinreichende Erklärung, da ihre Effizienz immer abhängig ist von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Machtstrukturen. Die Idee der Nation entwickelt sich im Kontext von komplexen Formen gesellschaftlicher Organisation und diese müssen dann folglich auch bei der Analyse berücksichtigt werden.

Hier sieht man seine Nähe zum modernisierungstheoretischen Ansatz. Allerdings lässt dieser für ihn die Fragen nach den Wurzeln und Ursprüngen der Nationsvorstellungen unbeantwortet. Aus diesen Problemen mit den eher als komplementär zu sehenden Theorieansätzen leitet Hearn die Forderung ab, sich intensiver mit den Konzepten von „Power“ und „Culture“ zu beschäftigen, die er als grundlegend für alle Arten von sozialen Beziehungen ansieht. Damit bietet er selbst keinen neuen Theorieansatz, sondern Anregung zum Weiterdenken durch einen Fokuswechsel.

Um das zu verdeutlichen bringt Hearn das Beispiel von Sprache und Religion, die in Diskursen über Nationalismus eine große wenn nicht gar zentrale Rolle spielen. Ausgehend von seinem Ansatz sieht er Sprache als fundamentales Medium für jegliche Art von Machtanspruch und dessen Durchsetzung. Die Religion hingegen, bzw. die mit ihr verbundene Kirche, bietet organisatorische Strukturen und Ressourcen, die wiederum ein Umlenken religiöser Gefühle auf die Nation ermöglichen.

Schließlich stellt er postmodernen Ansätzen seine Sicht gegenüber, dass Nationalismus eine sich im Laufe der Zeit verändernde Realität ist, weswegen er das Phänomen des Nationalismus als eine historische, sich langsam entwickelnde Form gesellschaftlicher Organisation begreift, die eben Macht und Kultur miteinander verknüpft.

Die kritischen Anmerkungen Hearns zu den gängigen Nationalismus-Theorien bieten viele Anknüpfungspunkte um weiterzudenken. Gerade weil dieses Buch keine fertigen Antworten liefert und auch nicht liefern will, ist es eine sehr anregende Lektüre zu einem komplexen Themenfeld.

Jonathan Hearn, Rethinking nationalism. A critical introduction (2006), 272 S., kt., 33,50 €, Palgrave Macmillan, Basingstoke/New York.

Klima, Vulkane und die Auswirkungen

Zum Thema, das gerade die Medien beherrscht, eine Buchempfehlung: Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Das Buch ist von 2007. Ich habe es erst vor einem halben Jahr mit großem Interesse gelesen und  möchte es hiermit zur Lektüre weiterempfehlen. In einem großen zeitlichen Bogen stellt Behringer Beziehungen zwischen kulturellen Phänomenen, gesellschaftlichen Entwicklungen und klimatischen Einflüssen her. Darunter fallen auch die Auswirkungen mehrere großer Vulkanausbrüche.  Über den Zusammenhang von „kleiner Eiszeit“ und den Hexenverfolgungen der Neuzeit hatte ich schon an der Uni was gelernt, neu waren für mich viele andere, plausible Zusammenhänge (z.B. zu den Abbildungen der Totentänze, die oft mit der großen Pest in Verbindung gebracht werden, viele sind aber etwas älter und haben ihren Ursprung in Hungersnöten Anfang des Jahrhunderts, die aus schlechten Wetter und Ernten resultierten), auch wenn zu Recht darauf hingewiesen wurde, dass vieles zunächst doch nur Korrelation und Vermutung ist. Einige eher kritische Rezensionen zum Buch finden sich auf clio online.

Digitale Werkzeuge für Einsteiger: das Taccle-Handbuch

Wer es noch nicht hatte, sollte es sich holen: Das Taccle-Handbuch gibt es zum Download hier. Taccle steht für Teachers‘ Aids on Creating Content for Learning Environments. Das Buch bietet einen leicht verständliche Einführung in das große Feld des e-learnings, der Arbeit mit Lernplattformen sowie einen guten Überblick über die wichtigsten Online-Werkzeuge wie Weblogs, Wikis oder Video-Sharing, stets mit Blick auf die Möglichkeiten des unterrichtlichen Einsatzes. Das Buch gibt es in mehreren Sprachen, u.a. auf Deutsch. Für den Download ist die vorherige Anmeldung auf der Seite nötig. Es besteht zudem die Möglichkeit, sich auch kostenlos ein Druckexemplar schicken möchte.

Neues aus dem Landeshauptarchiv

Am Sonntag, den 7. März 2010, findet zum 5. Mal der Tag der Archive in Koblenz statt. Bundes-, Landeshaupt- und Stadtarchiv laden von 14-17 Uhr zum Besuch ein. Unter dem Motto „Dem Verborgenen auf der Spur“ bieten die Archive einen Blick hinter die Kulissen.

Am 19. März 2010 wird die neue Archivkiste (Infos dazu unnötig verschämt ganz unten auf der Seite), die von Schulen ausgeliehen werden kann, auf einem Pressetermin öffentlich vorgestellt.

Der Arbeitskreis „Archiv & Schule“ trifft sich in diesem Halbjahr, am 12. April, um 15 Uhr im Landeshauptarchiv in Koblenz. Interessierte Geschichtslehrer aus RLP sin.d herzlich willkommen. Für weitere Informationen gibt es bei den Ansprechpartnern der Landesarchive.

Passend dazu erschien gestern eine Rezension des Buchs „Schüler ins Archiv! Archivführungen für Schulklasse“ auf H-Soz-u-Kult. Laut Rezension ein anregendes Buch für Archivare und Lehrer mit zahlreichen Ideen und fertigen, laut Reszensent „praxisnahen“ Modulvorschlägen für die archivpädagogische Arbeit.

Buchtipp: Erika Harris, Nationalism. Theories and cases.

Nur ganz kurz ein weiterer Buchtipp: Harris‘ Überblickswerk zum Thema „Nationalismus“ ist sehr lesenswert. Sie bietet einen gut verständlichen Überblick über die bestehenden theoretischen Ansätze, die mit kurzen Fallbeispielen unterfüttert und in einen breiten historischen und geographischen Hintergrund einbettet. Besonders erfrischend und überzeugend finde ich ihre (Neu-) Bewertung etablierter Theorien der Nationalismus-Forschung: So legt sie überzeugend dar, dass die ältere, auch in Schulbüchern noch weit verbreitete Unterscheidung von ethnischen und politischen definierten Nationen, die oft auch mit einer europäischen  Ost- / Westunterscheidung gleichgesetzt wird, keinen Erkenntniswert besitzt, da „all nationalisms are civic and ethnic to a greater or lesser degree at different times“. Ebenso macht für sie eine Unterscheidung von „gutem“ und „schlechtem“ Nationalismus (oft auch als „guter Patriotismus“ und „schlechter Nationalismus“) unterschieden keinen Sinn, da es hierbei immer um die Bildung einer Gruppenidentität, einer kulturellen und politischen Einheit geht, der immer die Tendenz innewohnt, die eigene Gruppe zu favorisieren und damit zugleich andere(n) abzuwerten. Harris‘ Erklärungsansatz liegt in der Betonung zweier widerstrebender Forderungen nach „Selbstbestimmung“.  Der Nationalismus mit seinem  Wunsch nach einem Nationalstaat berührt sowohl die Frage nach  ethnischer als auch nach politischer Selbstbestimmung, die aber, da homogene Nationalstaaten i.d.R. nicht realisierte Idealvorstellungen bleiben, gegensätzlich sind und Konflikte produzieren. In dieser Spannung zwischen Demokratie und Nationalismus sieht sie die wichtigste Herausforderung unserer Zeit. Angesichts der zahlreichen Konflikte, von denen sie einige, wie u.a. das Kosovo und Palästina, in ausführlichen Fallbeispielen behandelt, ist ihr hier sicherlich zuzustimmen.

Erika Harris, Nationalism. Theories and cases, Edinburgh 2009.

Buchtipp: The Hidden History of the Secret Ballot

An dieser Stelle möchte ich einen Sammelband empfehlen, den ich vor kurzem selbst empfohlen bekommen habe. Um mir die Arbeit einfacher zu machen, zitiere ich einfach den ersten Satz des Buchrückens, weil er auch mein Lesegefühl gut zusammenfasst:

„Every once in a while, a book comes along, that is refreshingly original and makes on think anew about a ‚well-known‘ topic“. (Akhil Gupta, Standford University)

Ohne auf alle Artikel in Ausführlichkeit eingehen zu können, möchte ich einige Punkte herausgreifen: Besonders lesenswert fand ich den Aufsatz von Frank O’Gorman „The Secret Ballot in the Nineteenth-Century Britain“. Mir war vorher nicht klar, wie spät das heute als selbstverständliches Grundprinzip unserer Demokratie geltende geheime Wahlrecht eingeführt wurde – in England z.B. durch den bekannten ballot act von 1872! – und wie kontrovers es gesellschaftlich disktutiert wurde. Eine chronologische Übersicht findet sich übrigens bei der englischsprachigen Wikipedia. Die u.a. deutschen, französischen und niederländischen sind ürigens überraschend kurz und bieten keinen historischen Überblick. Erstaunlich! Aber hoffentlich keine Frage der Relevanz 😉

Neu war mir auch, dass sich das geheime Wahlrecht erst durchsetzen ließ in einem Bündnis von progressiven und reaktionären Kräften, wobei letztere darin eine Chance sahen, den Demokratisierungsprozess zügeln und kontrollieren zu können. Interessanterweise haben Untersuchungen des Wahlverhaltens in England ergeben, dass durch die Einführung des geheimen Wahlrechts zunächst kaum Veränderungen des Abstimmungsverhaltens zu beobachten war. Interessant fand ich zudem, die zahlreichen aus unterschiedlichen politischen Richtungen vorgebrachten Argumente gegen ein geheimes Wahlrecht. In Erinnerung geblieben ist mir vor allem die Argumentation, dass nur durch die Öffentlichkeit des Wahlakts sichergestellt werden könne, dass der einzelne Wähler für das Wohl der Gemeinschaft und nicht für sein Eigeninteresse abstimme. Ein grundlegend anderes Demokratieverständnis als heute, das sich übrigens in entsprechenden Inszenierungen und Ritualen rund um die Wahl widerspiegelte.

Auch der kultursoziologische Ansatz, die geheime Wahl als Technik und Performanz zu verstehen und dahingehend zu untersuchen, ist äußerst aufschlussreich, da in mehreren Artikeln überzeugend dargelegt wird, wie in völlig unterschiedlichen Kontexten, geheime Wahlverfahren ganz unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben bekommen, so dass man nicht von einem grundsätzlich demokratielegitimierenden Verfahren sprechen kann.

Um noch einmal auf die Chronologie zurückzukommen:  Das moderne geheime Wahlverfahren ist übrigens in Australien entwickelt worden und von dort auch z.B. in den USA als „Australian ballot“ übernommen worden. Zum ersten Mal eingesetzt wurde es um 1855 in den australischen Staaten Tasmanien und Victoria. Zum 150. Jubiläum erschien 2005 ein kurzer, informativer Artikel in der Canberra Times, der sich gut zur Einführung eignet, vielleicht auch als Diskussionsgrundlage für eine entsprechende Einheit im Englischunterricht.

Romain Bertrand / Jean-Louis Briquet / Peter Pels (Hgg.), The Hidden History of the Secret Ballot, Bloomington/Indianapolis 2006.