Das Geschichtsbild des Empörten

Seit einer Weile lag die Streitschrift von Stéphane Hessel hier auf dem großen Stapel der ungelesenen Bücher. Jetzt habe ich das Buch endlich gelesen und mein erster Eindruck nach Lesen des letzten Satzes war: „Und das war’s schon?“ Der Text Hessels lässt sich kurz zusammenfassen: „Liebe Jugendliche, schaut euch um und ihr findet schon etwas, über das ihr euch empören könnt. Macht alles, nur habt bitte keine Null-Bock-Haltung. Das geht gar nicht.“ Nichts, was man vorher nicht auch schon gehört hätte. Meine Lehrer haben mir als Schüler mit anderen Worten auch schon vor zwanzig Jahren leierkastenhaft gepredigt.

Das Lesen hat meinen Eindruck bestärkt, dass in den aktuellen europäischen Protesten, auch die spanischen Jugendlichen beziehen sich als „Empörte“ (Indignados) explizit auf das Buch Hessels (spanische Übersetzung des Titels: „¡Indignaos!“), weniger um die Rezeption der (dünnen) Inhalte des Buches geht, sondern um die Übernahme der griffigen Slogans: „Indignez-vous!“ sowie am Ende „Créer, c’est résister. Résister, c’est créer.“ (S. 22, alle Angaben beziehen sich auf die Ausgabe: Indigène Editions, 12. Auflage, Januar 2011)

Was mir beim Lesen allerdings auffiel, ist das explizite Geschichtsbild, das der Argumentation Hessels zugrunde liegt. Zum einen bezieht er sich auf selbst erlebte Geschichte, vor allem die Résistance und die Ausarbeitung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Diese Errungenschaften bilden den Ausgangspunkt seiner eigenen Empörung: „C’est tout le socle des conquêtes sociales de la Résistance qui est aujourd’hui remis en cause.“ (S. 11)

Zum anderen expliziert er seine Vorstellungen von Geschichte als lineare und sinnhafte Entwicklung: Die Geschichte der Menschheit als Fortschritts- und Erfolgsgeschichte. Das Ziel der Geschichte sei die vollständige Freiheit des Menschen in einem idealen demokratischen Staat. (S. 13)

Diese Überzeugung speise sich aus seinem naturgegebenen Optimismus, dem er das Denken und Leben Walter Benjamins, den er als „väterlichen Freund“ bezeichnet, gegenüberstellt, der eine negative Botschaft gehabt und Geschichte als unvermeidliche Kette von Katastrophen wahrgenommen habe und dessen Leben (deshalb quasi folgerichtig) im Selbstmord geendet hätte (S. 14) und nicht in einer Beteiligung am Aufstand der Résistance wie Hessel selbst.

Auch wenn Hessel von der „langen Geschichte der Menschheit“ spricht, haben seine historischen Ankerpunkte wenig zeitliche Tiefe. Die zunehmend große Kluft zwischen Arm und Reich ist für ihn eine „Erfindung des 20. und 21. Jahrhunderts“. (S. 14) Etwas weiter fordert er dann, dass man mit dem westlichen Denken von Wachstum und eines „Immer mehr“ (S. 20) brechen müsse.

Dass sich keine reine Erfolgsgeschichte erzählen lässt, ist Hessel natürlich nicht zuletzt aufgrund seiner Lebenserfahrung klar. Also versteht er Geschichte als eine Erzählung von Etappen des „Fortschritts“, die immer wieder auch „Rückschläge“ erleidet. Er stellt die beiden Begriffe „progrès“ und „récul“ einander gegeüber und füllt sie mit einigen Beispielen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. (S. 21) Da aber das Ziel der geschichtlichen Entwicklung die Freiheit des Menschen sei, dürfe man hoffen, müsse sich den Herausforderungen stellen und seinen Teil zur Verwirklichung der Geschichte beitragen. Die Hoffnung ist ein zentraler Begriff seiner Überlegungen und speist sich aus seinem historischen Fortschrittsoptimismus.

Man muss nicht erst die für den Geschichtsunterricht entwickelten Kompetenzmodelle zugrunde legen, um die vergleichsweise Naivität dieser teleologischen Konzeption von Geschichte zu erkennen, die in der Tradition der europäischen Aufklärung steht. Sie bildet allerdings den Kern von Hessels Argumentation: Aus dem erkannten Gang und Ziel der historischen Entwicklung leitet er die Hoffnung auf Fortschritt und Freiheit ab, die für ihn die Basis für die Aufforderung zu Empörung und Engagement bilden.

Auch wenn, wie eingangs gesagt, vermutlich mehr die Slogans als der gesamte Text Hessels von den Protestierenden in Europa rezipiert werden, stellen sich mir die Fragen, warum gerade dieser Text so erfolgreich ist und ob nicht ein optimistischer Fortschrittsglaube, der weniger auf Hessels Buch, als auf einem allgemein verbreiteten naiven Vorstellungen vom Verlauf der Geschichte aufbaut, auch eine wesentliche Grundlage für die Bereitschaft vieler Menschen zum gesellschaftlichen Engagement und Protest darstellt?


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